Der Monomythos

Der Monomythos ist die Geschichte hinter allen Geschichten. Niemand hat sie sich je ausgedacht, sondern sie ist »mitgebrachtes« Wissen unserer Seele. Dadurch wohnt Geschichten mit monomythischer Struktur das Phänomen inne, dass sie überall auf der Welt, unabhängig von der Kultur, in der sie entstanden sind, als ergreifend und psychologisch überzeugend empfunden werden. Sie schaffen es, eine besondere empathische Verbindung zwischen dem Helden der Geschichte und dem Leser oder Zuschauer herzustellen, denn die Handlung wird, ohne dass es uns bewusst ist, zu unserem eigenen Weg, den wir nicht nur von Geburt bis zum Tod, sondern auch dazwischen unzählige Male durchlaufen. Sei es, wenn wir eine berufliche Krise erfolgreich meistern, uns aus einer Beziehung erfolgreich lösen, unseren räumlichen Lebensmittelpunkt wechseln – wann immer wir uns in einem Prozess wiederfinden, der uns zur Veränderung unserer Lebensumstände und Gewohnheiten zwingt, durchleben wir das Schicksal des mythischen Helden und machen uns auf seine Reise. Doch was genau zeichnet diesen Prozess aus, dass wir uns mit seiner zeitlosen Tradition im Moment des Umbruchs verbunden fühlen?

Der Prozess jeder Wandlung war in primitiven Stämmen und alten Hochkulturen von einer mystischen Praxis begleitet, die heute unter den Begriffen der Übergangsriten 1 bekannt ist. Diese Riten dienten dazu, »den Menschen über jene schwierigen Lebensschwellen hinwegzuhelfen, bei deren Passieren eine Strukturänderung nicht nur des bewussten, sondern auch des unbewussten Lebens zu vollziehen ist.« 2 So waren Geburt und Namensgebung, der Übergang ins Erwachsenenalter, Hochzeit oder auch Bestattung stets von gesellschaftlichen Zeremonien begleitet, die den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt einläuteten und das Schicksal des Einzelnen zum Schicksal der Gemeinschaft werden ließen. Selbst wenn wir heute auf die Begleitung unserer Mitmenschen oft verzichten (müssen), vollzieht sich ein Wandlungsprozess auch im 21. Jahrhundert noch nach dem Schema, das allen archaischen Übergangsriten zugrunde lag:

In einer Phase der Trennung wird der Geist von seinen alten Bindungen und Gewohnheiten der vollendeten Lebensphase losgerissen und erfährt in einer gewissen Zurückgezogenheit durch z.T. schmerzhafte oder leidvolle innere und äußere Veränderungen die Initiation in eine neue Situation. Ist diese erfolgreich vollzogen und das Individuum mit neuem Wissen, neuen Erkenntnissen oder Erfahrungen ausgestattet, kann es sich aus seiner Isolation befreien und tritt gewandelt und oft wie neu geboren die Rückkehr zur Gemeinschaft an. Die Abfolge von Trennung, Initiation und Rückkehr ist nach Campbell der »einheitliche Kern des Monomythos« 3. In diesen drei Phasen durchläuft der Held eine Wandlung, in der die größten Fragen, kollektiven Ängste und Sehnsüchte der Menschheit zum Ausdruck kommen. Die Frage nach dem Ursprung der Welt, die Sehnsucht nach dem Paradies, das Spannungsverhältnis von Gut und Böse, Erde und Himmel, Leben und Tod spiegeln sich in jeder Heldenreise wider und dem Helden als Vorbild der Menschheit ist es vergönnt, durch die Errungenschaften auf seiner Reise diese Fragen am Ende zu klären. In der Erlangung dieses geheimen Wissens liegt die Magie des Monomythos. Wie der Held zu diesem Wissen gelangt, soll im Folgenden kurz dargestellt werden:

Trennung: Das Verlassen der gewohnten Welt

Der augenscheinliche Zufall, ein Fehltritt, eine Begebenheit von außen – das Ereignis, das den Helden auf seinen Weg ins Abenteuer bringt, kann vielfältig sein. Oft ist ihm der Ruf, der ihn ereilt, eine Last und die Unbequemlichkeit, ihm zu folgen, mag in ihm zunächst größten Widerstand auslösen. Doch seine erste und vielleicht wichtigste Aufgabe ist es, seine Berufung zu erhören und die Bequemlichkeit seines Alltags hinter sich zu lassen, um z.B. das bedrohte Königreich zu retten. Was immer seine Aufgabe sein mag, sie ist Ausdruck der Notwendigkeit für den Helden, sich selbst weiter zu entwickeln, seine eigenen Grenzen zu überwinden und in der Überwindung seiner eigenen Ängste auch das Heil der Gesellschaft zu bewirken. So ist ein bedrohtes oder kränkelndes Königreich nicht selten Ausdruck für ein Defizit im Helden selbst, das nach Ausgleich und Genesung verlangt.

Initiation: Die Nachtmeerfahrt des Helden

Unweigerlich führt ihn sein Weg an die Schwelle zu einer anderen Welt, der er sich gern entziehen würde. Diese dunkle, zumeist unterirdische Welt ist nicht nur mit Angst und Gefahr verbunden, sie zu betreten kommt vielmehr der Selbstvernichtung des Helden gleich. Der Weg durch die Unterwelt ist die eigentliche Abenteuerfahrt und ihre symbolischen Verkleidungen sind zahllos. Der dunkle Wald oder die Tiefen des Meeres sind häufige Symbole für die unbekannte und gefürchtete Welt, die das zu erlangene Gut in sich gefangen hält. Ein anderes Symbol, das sich in erstaunlich vielen Mythologien in ähnlicher Form findet, ist das Bild vom Walfisch, der den Helden verschlingt. In der jüdisch-christlichen Tradition finden wir dieses Motiv in der Geschichte von Jonas. Er widersetzt sich Gottes Gebot, der Stadt Ninive das Strafgericht anzudrohen und gerät zur Strafe mit seinem Schiff in Seenot, woraufhin er von einem Wal verschlungen wird. An diesem Beispiel wird deutlich, wie die Berufung den Helden einholt, wenn er sich ihr widersetzt – die Unterwelt saugt ihn kurzerhand auf.

Abb. 2 – Einem Erklärungsansatz zur Folge ist der Mythos von der Nachtmeerfahrt der Sonne auf der 3600 Jahre alten Himmelsscheibe von Nebra wiederzufinden: Die Sonnenbarke (unterstes Element) dient dazu, die Sonne vom westlichen zum östlichen Horizont zu transportieren.

Abb. 2 – Einem Erklärungsansatz zur Folge ist der Mythos von der Nachtmeerfahrt der Sonne auf der 3600 Jahre alten Himmelsscheibe von Nebra wiederzufinden: Die Sonnenbarke (unterstes Element) dient dazu, die Sonne vom westlichen zum östlichen Horizont zu transportieren.

Im Walfisch-Symbol kommt das Motiv der Vernichtung des Helden deutlich zum Ausdruck. Doch sein Sterben ist nur äußerlich. Indem er gefressen wird, streift der Held seine weltliche Hülle ab und taucht ab in das Innere des Ungeheuers, das statt zum Grab nun zum Schoß einer neuen Geburt des Helden wird. So ist seine Selbstopferung nicht mit dem eigenen Tod verbunden, sondern er erfreut sich seiner eigentlichen Geburt, der Geburt in ein neues, geistiges Leben. In der Bibel findet sich dieser Prozess des Sterbens und Wiedergeborenwerdens Jesu als wohl bekanntestes Beispiel im westlichen Kulturkreis: »gekreuzigt, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tag auferstanden von den Toten«. Das Motiv der drei Tage verweist dabei auf den starken Einfluss natürlicher Phänomene, der sich in der Mythologie niederschlägt, im obigen Beispiel ist dies die Bewegung des Mondes. Nachdem die schmale Mondsichel sich in den Neumond verwandelt hat, dauert es drei Tage, bis der Mond wieder am Himmel sichtbar und damit »wiedergeboren« wird. Weiter verbreitet ist jedoch der Mythos von der Nachtmeerfahrt der Sonne. Bevor das kopernikanische Weltbild die Wissenschaft revolutionierte, fanden sich die Erklärungen über den Verbleib der Sonne in der Nacht einzig in der Mythologie. So entstand die Vorstellung, dass die Sonne, nachdem sie am Abend hinter dem westlichen Horizont verschwindet, das Nachtmeer des Himmelszelts durchfahren muss, um am nächsten Morgen im Osten wieder aufzugehen.

Abb. 1. (links) – Jonas wird  vom Wal verschlungen – eine typische Darstellung der Nachtmeerfahrt des Helden

Abb. 1. (links) – Jonas wird vom Wal verschlungen – eine typische Darstellung der Nachtmeerfahrt des Helden

»Der gewöhnliche Sterbliche ist nicht nur unzufrieden, sondern geradezu stolz, dass er innerhalb der etablierten Grenzen bleibt, und die geläufigen Ansichten tun das Ihre, sein Zagen schon vor dem ersten Schritt ins Unerforschte zu bestätigen.« 4 Doch dies unterscheidet den Helden vom gewöhnlichen Menschen: Zur Erfüllung seiner Aufgabe wagt er es, sich seinen Ängsten zu stellen und die allgemein gefürchteten Grenzen zu überschreiten. Denn was der gewöhnliche Mensch nie erfahren wird, ist das, was der Held von dieser Reise mitbringt: Sich der Angst vor der Selbstvernichtung zu stellen, sie für einen höheren Zweck zu überwinden und statt vollständig vernichtet, schließlich mit erhöhtem Bewusstsein wiedergeboren zu werden, erschließt dem Helden seine eigenen schlummernden Potentiale und als Herr der zwei Welten hat er nicht nur die lichte, sondern auch die dunkle Welt für sich erobert, hat ihre Tücken kennen und beherrschen gelernt und ihre Schätze gehoben.

Rückkehr: Die Wiedergeburt

Was auch immer die Aufgabe des Helden war – das magische Elixier oder die Prinzessin aus den Klauen des Drachen zu befreien – das Verlassen der Unterwelt und die Rückkehr zur Gesellschaft konfrontiert ihn noch einmal mit weiteren Herausforderungen, denn die Diener und Wächter der Unterwelt suchen seine Rückkehr zu verhindern. So wird das Übertreten der Schwelle zurück in die Oberwelt zum erneuten Kampf für den Helden. Ist auch diese Etappe gemeistert, kann er nun sein neues Leben als Herr der zwei Welten, der oberen und der unteren, der lichten und der dunklen, aufnehmen und mit dem errungenen Gut das Königreich retten. Was er nun der Gesellschaft angedeihen lassen kann, widerspiegelt das Motiv der Einkehr ins Paradies. Während der Abstieg in die Unterwelt dem Tod gleichkam, führte ihr Verlassen doch zur Wiedergeburt. Sein Weg durch das Böse, Dunkle, Untere hat dem Helden dessen Eigenschaften erschlossen und er konnte die dem Bösen innewohnenden Schätze befreien. Sie nun mit dem Guten, Hellen, Oberen zu verbinden führt zur Vervollständigung, zur Ganzwerdung und damit zur Auflösung aller Gegensätze. In Märchen finden wir hierfür häufig das Symbol der Hochzeit, bei der sich der Held mit der (meistens geretteten) Prinzessin zu einem Ganzen vermählen kann. Ein weiteres bekanntes Symbol ist das Besteigen des Throns, was die Krönung des Helden einschließt und damit das Erreichen einer höheren Bewusstheit zum Ausdruck bringt.

  1. Der Begriff geht zurück auf Arnold van Gennep (1999): Übergangsriten. Frankfurt a. M.
  2. Campbell 1999, S. 19
  3. Ebd., S. 36
  4. Ebd., S. 79