Die Archetypen des Unbewussten und ihr Konfliktpotential

Die Archetypen des Selbst: Der Seelenkern als Weisheitszentrum

Nach der Auseinandersetzung mit dem Seelenbild erscheinen auf der Reise nach innen neue archetypische Figuren, die bereits zum Kreis der Archetypen des Selbst gehören und den Menschen zu neuer Auseinandersetzung und Stellungnahme zwingen. Jung bezeichnet das Selbst u.a. als »Seelenkern«, dessen Ausdehnung das Ich weit überragt. In Mythen, vor allem in Religionsgeschichten, spiegeln die Manifestationen des Selbst das Grundprinzip des Universums wider. Figuren wie die griechische Muttergottheit Demeter, der göttliche Mensch P’an Ku in der chinesischen Mythologie, der persische Gayomart oder der indische Purusha verkörpern jene Instanz des »großen Menschen«, der, mit Himmel und Erde untrennbar verbunden, die Beschränkungen von Zeit und Raum überwunden hat und gezeichnet ist von grenzenloser Weisheit. Die weisen Gottheiten verweisen als Manifestationen des Selbst auf jenen Zustand, der nach dem erfolgreichen Durchschreiten aller Individuationsstufen in Aussicht steht.

»[D]ie innerseelische Wirklichkeit in jedem Menschen hat letztlich eine geheime Zielstrebigkeit, das Selbst zu verwirklichen. Das bedeutet praktisch, dass man die Existenz des einzelnen Individuums niemals nur aus irgendwelchen Zweckmechanismen heraus, wie Überleben, Fortsetzung der Spezies (Rasse), Sexualität, Hunger, Todestrieb usw., wird erklären können, sondern dass es darüber hinaus der Eigendarstellung von etwas Menschlichem an sich dient, welches nur durch ein Symbol ausgedrückt werden kann, eben durch das Bild des kosmischen Menschen.« 1

Ist der Schatten besiegt und die innere Hochzeit mit dem Seelenbild vollzogen, folgt die innere Begegnung mit den Manifestationen des Selbst. Bei der Frau kleidet es sich in Träumen häufig in die Gestalt einer überlegenen weiblichen Figur wie die einer Priesterin, einer Zauberin, die der Erdmutter, einer Natur- oder Liebesgöttin. Beim Mann erscheint das Selbst häufig in Gestalt eines Eingeweihten, als Guru, Naturgeist, weiser Eremit o.ä. 2

»Wenn ein solches Symbol im Traum eines einzelnen auftaucht, darf man meistens auf eine schöpferische Lösung seiner Konflikte hoffen, denn dann ist der Seelenkern aktiviert und eine Einheit des inneren Wesens geschaffen, welche auch große Schwierigkeiten überwinden kann.« 3

Jung unterscheidet zwei Archetypen des Selbst, die sich als seine weibliche und männliche Hälfte zeigen können:

Der Alte Weise ist die Personifikation des geistigen Prinzips und die männliche Hälfte des Selbst. Ihn kennzeichnen grenzenloses Wissen und Verstehen. Da die Inhalte der Selbst-Archetypen (auch Mana-Persönlichkeiten genannt) nur noch in bildlich-symbolischer Form erfahrbar sind, charakterisiert Jolande Jacobi den Alten Weisen auf folgende metaphorische Weise:

»Uraltes, grenzenloses Wissen und Verstehen sind in das Antlitz des ›Alten Weisen‹ eingezeichnet. Die Augen sind nach innen gekehrt, die Züge unbeweglich, der Mund geschlossen; sie drücken höchste Geistigkeit aus, eine Geistigkeit, die mit der Natur gleichsam verwachsen, selber Natur geworden ist. Brust und Schultern sind zur Erde geworden, gras- und moosbedeckt; sie geben den Tauben, den Vögeln der Aphrodite, der Güte und der Liebe, Nahrung. Die Sonnenscheibe hinter dem Haupt weist auf das Logoshafte der Erscheinung und der Kristall in seinen Händen, ein Symbol der Ganzheit, auf das höchste Ziel seelischer Entwicklung, auf das ›Selbst‹ hin« 4

Die Große Mutter ist die weibliche Hälfte des Selbst und Personifikation des stofflichen Prinzips. Ihr Archetyp beinhaltet das Wissen um die Kraft der Natur und ihre zeitlose Fähigkeit zu Fruchtbarkeit und Zerstörung.

»Die ›Große Mutter‹, die allumfassende, unerbittliche ›Welt‹ im sternengewobenen Himmelskleid, beschattet von goldenen Früchten und sanft erleuchtet von der Mondsichel, schaut voller Mitleid auf die arme Kreatur, die sie doch selber in der harten Umgarnung ihrer groben Hände entzweischnürt, bis sie aus tiefer Wunde blutet. Das Leiden an dieser Zerrissenheit durch die zwei Gegensätze, den höheren und den unteren Bereich ihres Seins, und das Ertragen der daraus entstandendenen Spannung zeigt das Leben zwar als Martyrium, aber dieses auch als Voraussetzung zur Wiedergeburt im Kinde als dem Sinnbild des ›Selbst‹ und zum Aufstrahlen der Sonne in den Tiefen des unergründlichen Weltenschoßes. Die große Erdmutter repräsentiert so  die kalte und sachliche Wahrheit der Natur.« 5

Die Archetypen des Alten Weisen und der Großen Mutter sind jene Kräfte, die wir in mythischen Erzählungen in der Gestalt des Mentors wiederfinden. Wann immer sie dem Helden begegnen, sind sie die Verkörperung der Stimme des Helden-Selbst, das ihn durch seine Entwicklung leitet. Zum einen hat der Mentor die psychologische Funktion, dem Helden zu Beginn seiner Reise ein Vorbild dafür zu geben, wohin ihn seine innere Entwicklung führen kann, sofern er den Mut dazu aufbringt. Zum anderen verweist das Motiv auf die allgegenwärtige Kraft des Selbst, das nicht erst im letzten Stadium der Individuation aktiv wird.

Von Geburt an ist das Selbst jener übergeordnete Archetyp, der alle Entwicklungsschritte motiviert und andere Archetypen zu gegebener Zeit aktiviert. Das Selbst kleidet sich stets in den Archetypen, dessen Ziel in der Entwicklung gerade ansteht. In der letzten Individuationsphase, wenn alle anderen Instanzen mit dem Bewusstsein verbunden sind, nimmt das Selbst eine eigene Gestalt an und fordert das Individuum auf zu einer letzten, überpersönlichen Erkenntnis, die es die Verbundenheit und Endlosigkeit der Dinge erfahren lässt. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, ist der Archetyp des Selbst die bedeutendste Triebkraft in der Heldenreise, die sich nicht bloß auf die Verkörperung im Mentor beschränkt. Auch die Berufung zur Reise, die große Krise (der Heldentod), die Segnung etc. sind maßgeblich durch den Einfluss des Selbst-Archetyps bestimmt, womit eine Beschränkung auf die Figur des Mentors der umfassenden Bedeutung dieses Archetyps nicht gerecht würde.

Dennoch ist der Mentor häufig eine einflussreiche und dramaturgisch nützliche Verkörperung der Selbst-Instanz, bestenfalls steht seine Funktion in einer engen und vielschichtigen Verbindung zu allen weiteren archetypischen Kräften, die in einem Film verkörpert sind. Die wohl berühmteste Mentoren-Figur der Filmgeschichte ist Obi-Wan Kenobi in Krieg der Sterne, der Luke Skywalker nicht nur auf seine Begegnung mit Darth Vader innerlich vorbereitet, sondern ihm vor allem auch eine Lebenslektion erteilt, warum es sich lohnt, als Jedi-Ritter für ein überpersönliches Ziel einzutreten.

Eine weitere, sehr vielschichtige Mentoren-Figur finden wir in Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer. Er ist ein vorbildliches Beispiel dafür, wie sich der Einfluss des Selbst-Archetyps auf den Helden in der Gesamtkonstellation der Kräfte ausnehmen kann. Hannibal Lecter vervollständigt das archetypische Kräfteensemble, womit nun Clarice Starlings psychische Entwicklung im Zusammenspiel der Archetypen vollständig nachgezeichnet werden kann. Die Funktion der einzelnen archetypischen Kräfte lässt sich dazu folgendermaßen veranschaulichen:

[Grafik]

Wie oben bereits erwähnt, ist Clarice geprägt von zwei einschneidenden Erlebnissen ihrer Kindheit, die vermutlich in einem psychologischen Zusammenhang stehen: Ihr Vater wurde bei einem Polizei-Einsatz erschossen, was Clarice mit dem aggressiven Wesen des Menschen konfrontierte. Das Erlebnis der schreienden Lämmer, die getötet wurden, rief in ihr unbewusst die Assoziation zu der Tötung ihres Vaters hervor und manifestierte sich zu einem symbolischen Kindheitserlebnis, das sie nun zur Jagd nach Buffalo Bill motiviert, ohne sich bewusst zu machen, dass es die Rächung ihres Vaters ist, die sie dazu antreibt, gegen aggressive Tendenzen der menschlichen Natur vorzugehen. Dr. Lecter erahnt diesen Zusammenhang und erkennt, dass sich Clarice ihren eigenen sowie den allgemein menschlichen Abgründen stellen muss, um ihre Unsicherheit, mit der er fortwährend spielt, zu überwinden.

Seine Figur ist eine gekonnte, wenn auch pathologische Verkörperung des höheren Selbst. Sein messerscharfer Verstand zeugt von einem bestens geschulten und ausgeprägten Bewusstsein, das zu höchster Erkenntnis fähig ist. Seine überdurchschnittliche Erkenntnisfähigkeit steht dabei in untrennbarem Zusammenhang zu der schonungslosen Akzeptanz tierischer Züge in sich. Lecters Hang zum Kannibalismus symbolisiert seine vollständige Akzeptanz niederster, unbewusster Züge, womit die Doppelnatur der menschlichen Psyche in ihm – wenn auch auf pathologische Weise – vollkommen vereint ist. Die eigentümliche Sympathie zwischen Lecter und Starling wird zur emotionalen Grundlage für seinen Einfluss als Mentor. Der unsicheren, bewusstseinsgesteuerten und moralisch gefestigten Clarice dürfte es widerstreben, sich auf die Anweisungen eines Psychopathen wie ihm einzulassen, doch Clarice zeigt sich unbewusst bereit, auf die Führung ihrer Selbst-Projektion zu hören.

Die zwiespältige Natur ihrer Beziehung – ethisch-moralische Ablehnung zum einen, Sympathie und Zuneigung zum anderen – zeugt von der Doppelgesichtigkeit, die häufig mit dem Ruf des Selbst verbunden ist und die das Ich dazu drängt, vom Kollektiv anerzogene Grenzen zu übertreten, um der eigenen Verwirklichung entgegenzutreten. Lecter konfrontiert sie mit diesen Grenzen, indem er sie nicht nur ihr Innerstes offenbaren lässt, sondern indem er sie immer wieder dazu anregt, sich in Buffalo Bills Denkweise hineinzuversetzen. Nur durch diese schonungslose Konfrontation kann sie ihrem Schatten auf gleicher Augenhöhe begegnen und die abgespaltenen Persönlichkeitsinhalte als existent anerkennen.

Dass Clarice Catherine stellvertretend für das Lamm ihrer Kindheit rettet, hat für sie kathartische Wirkung, denn nun kann sie auch den Verlust ihres Vaters im Prozess der inneren Versöhnung mit dem Schatten verwinden. Diese Aussöhnung ermöglicht es ihr, sich von der Animus-Bindung an ihren Vater zu befreien. Diese war bis dahin für ihr psychisches Gleichgewicht nötig, um ihrem unbewusst motivierten Rache-Feldzug gegen Schatten-Tendenzen innerlich und äußerlich ein Fundament zu geben. Als sich das Vater-Bild von ihrem Animus lösen kann, kann sich Clarice auch der Animus-Projektion auf Jack Crawford entledigen und ihm mit einem völlig neuen Selbst-Bewusstsein als Heldin begegnen.

  1. Jung et. al. 1980, S. 202 f
  2. Vgl. ebd., S. 196
  3. Ebd., S. 199 f
  4. Jacobi 2003, S. 125
  5. Ebd., S. 126