Übersicht über die einzelnen Reisen

Aus der obigen Betrachtung lässt sich die mythische Reise im menschlichen Leben viermal in größeren Abschnitten wiederfinden. Dabei bildet der gesamte Lebensweg eine übergeordnete Reise, deren einzelne Phasen von Trennung, Initiation und Rückkehr jeweils eine eigene, abgeschlossene Entwicklung enthalten, die dem monomythischen Schema entspricht. In der Übersicht wird deutlich, wie sich die einzelnen Heldenreisen sowohl diachronisch als auch synchronisch lesen lassen, wobei bei synchronischer Betrachtung auffällt, dass sich die Entwicklung, die sich im Verlauf einzelner Lebensstadien stets auf geistiger und stofflicher Ebene volzieht – zunächst im der Auseinandersetzung im elterlichen Kreis, daraufhin im Kollektiv außerhalb des Elternhauses und schließlich im innerpsychischen Rahmen.

Trennung Initiation Rückkehr
Geistiger Aspekt Stofflicher Aspekt
Kindheit bis Pubertät Trennung vom natürlichen Ursprung durch das Erkennen des Ich Überwinden primitiv-unbewussten Denkens und Handelns Differenzierung der Geschlechter, projiziert auf Mutter und Vater Rückkehr zur Stabilität durch eine vollständige, aber unreflektierte Anpassung an die Kollektivnorm
Pubertät bis mittleres
Erwachsenen-
alter
Trennung von der elterlichen Kollektivnorm durch Ich-
aktivierende archetypische Vorgänge Überwinden elterlicher und Entwickeln eigener Normen und Werte Ablösung von den Eltern-Imagines und Entfalten der eigenen Sexualität Rückkehr ins Kollektiv als Kulturträger und Lebensspender (Familiengründung)
Ab dem späteren Erwachse-
nenalter
Trennung von der gesellschaftlichen Kollektivnorm Überwinden der Kollektivnorm durch Erkennen der eigenen Schattenseiten Überwinden der psychischen Eingeschlechtlichkeit Rückkehr in das Kollektiv als Einzelwesen, das die innere und äußere Welt beherrscht;  Geburt des geistigen Kindes (des Selbst)

Neumann folgt dieser Dreiteilung nicht, sondern betrachtet die erste und die zweite Lebensreise als abgeschlossene Prozesse mit mythischem Charakter. Auch diese Einteilung ist plausibel und sinnvoll im Hinblick auf ihre Verwendung als Bezugssystem zur Analyse von künstlerischen Heldengeschichten. Die erste und zweite Heldenreise sieht nach Neumanns Kategorisierung folgendermaßen aus:

Trennung Initiation Rückkehr
Geistiger Aspekt Stofflicher Aspekt
Erste
Lebenshälfte
Trennung vom natürlichen
Ursprung durch das Erkennen
des Ich
Geistige Erziehung und Kultivierung durch 
den Geist-Aspekt der Welteltern, schließlich Los-lösung vom
Vater-Imago und Ausbilden eines eigenständigen Geist-Aspekts
Zunächst Erkennen der Geschlechter als Differenz, später Loslösung vom Mutter-Imago
und Ausbilden
eigener sexueller Aktivität
Rückkehr (Integration) ins Kollektiv als Kulturträger und Lebensspender (Familiengründung) – Stadium maximaler Ich-Ausbildung und Differenzierung
Zweite
Lebenshälfte
Trennung von
der gesellschaft-lichen Kollektivnorm
Überwinden der Kollektivnorm durch Erkennen der eigenen Schattenseiten Überwinden der psychischen Eingeschlechtlichkeit Rückkehr in das Kollektiv als Einzelwesen, das die innere und äußere Welt beherrscht; Geburt eines geistigen Kindes –Ausbildung des Selbst

Die unterschiedlichen Herangehensweisen zur Unterteilung der menschlichen Entwicklung machen deutlich, wie dynamisch der Individuationsweg ist. Da mit jeder Phase der Rückkehr ein neuer Aufbruch eingeläutet wird und in der Praxis stets mehr als ein Prozess in Entwicklung ist, können sich strukturelle Einteilungen gemäß des gesetzten Fokus verschieben. Für die Verwendung zum Verstehen psychischer Prozesse in mythischen Erzählungen ist es daher notwendig, die Grundelemente der mythischen Reise (Trennung, Initiation, Rückkehr, männlicher und weiblicher bzw. geistiger und stofflicher Archetyp) auszumachen und sie in das Gesamtsystem der Individuation einzuordnen. Auch wenn der letzte Entwicklungsabschnitt des Lebens für die Deutung symbolischer Werke das impliziteste und sicher interessanteste Bezugssystem ist, können sich dennoch auch frühere Entwicklungsabschnitte als Deutungsgrundlage anbieten. Bei einem Spielfilm kann dies allerdings nur bedingt sinnvoll sein, da man u.U. eine Figur zu sehr psychologisiert, wenn man über ihre Elternbindung spekulieren muss, obwohl diese im Film vielleicht nicht thematisiert wird. Inwiefern man frühe archetypische Prozesse in die Analyse einbezieht, sollte also vom jeweiligem Werk und dem Nutzen der Wahl abhängig gemacht werden.