Einführung

Seit Jahrtausenden erzählen sich Menschen Geschichten – sei es, um ihr Weltwissen zu konservieren und es an folgende Generationen weiterzugeben, oder zum Zweck der bloßen Unterhaltung. Märchen, Mythen, Sagen und Volksepen haben die Generationen überdauert und werden heute durch Unterhaltungsliteratur, Film, Fernsehen und Theater ergänzt. Schon im Kindesalter schöpfen wir aus den Tiefen unserer Vorstellungskraft und tauchen ab in unsere eigene Traumwelt, die wir uns Kraft unserer unerschöpflichen Fantasie immer wieder neu erschaffen können. Selbst wenn wir das Geschichtenerzählen mit zunehmendem Alter oft verlernen, sind wir doch in jeder Lebensphase begeistert davon, anderen beim Erzählen ihrer Geschichten zu folgen – sei es, in dem wir uns in einen spannenden Roman versenken oder im Kinosessel in fiktive Welten abtauchen.

Im Allgemeinen nehmen wir die Fabulierfreude des Menschen als alltäglichen Umstand hin, ohne einen Gedanken darauf zu verwenden, wo die Quelle für dieses Bedürfnis nach schöpferischer Betätigung zu finden sein mag. Gerade diese vermeintliche Selbstverständlichkeit kann uns dazu anregen, die Funktion des kreativen Erzählens einmal etwas neugieriger zu hinterfragen. Doch nicht allein der Akt des Fabulierens und die Begeisterung, Geschichten zu rezipieren, ist im Laufe der Menschheitsentwicklung konstant geblieben. Auch die Geschichten selbst haben sich mit den Jahrtausenden kaum verändert, sie haben nur immer wieder ihr Gewand gewechselt. Während Odysseus sich noch mit einem Schiff fortbewegte, hat Luke Skywalker in Krieg der Sterne (Regie: George Lucas, 1977) dieses in ein Raumschiff getauscht. Doch so sehr der zeitliche Fortschritt die äußere Verkleidung der Geschichten auch beeinflusst haben mag, ist der Kern selbiger doch unberührt geblieben. Nach wie vor ranken sich die Geschichten der Menschen aller Kulturkreise um die ewigen Themen wie Leben und Tod, Liebe und Kampf, Ehre und Rache, Diesseits und Jenseits. Diese unverwüstliche Essenz aller Geschichten, der Mythos, wird im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen.

Betrachtet man den Erfolg bestimmter Hollywood-Filme, liegt die Vermutung nahe, dass sich das menschliche Bedürfnis nach Mythen heute in dieser zeitgenössischen Unterhaltungsform äußert. Denn wie einst in archaischen Kulturen die mythischen Geschichten um die heldenhaften Vorbilder einer Gesellschaft Instanzen zur Orientierung, zur eigenen Lebensgestaltung, zu richtigem und falschem Handeln waren, erwerben wir heute dieses Wissen oft von den Leinwandhelden, die nicht selten weit größere Probleme vorbildlich meistern, als sie uns tagein tagaus begegnen. Selbst wenn der Mythos seinen vordergründigen Stellenwert in der Gesellschaft verloren hat, ist er doch nicht verschwunden. Vielmehr hat er sich in den Hintergrund zurückgezogen und speist sich immer wieder neu aus unserem latenten Bedürfnis nach Erklärungen, was die Welt im Innern zusammenhält.

Geschichten von Helden, Drachen und schönen Mädchen sind offenbar nicht willkürlich und in ihrer Substanz über zeitliche Einflüsse erhaben. Während bereits Dramaturgen des 18. und 19. Jahrhunderts wie Carlo Gozzi und Georges Polti auf das Phänomen der konstanten mythischen Dramen-Motive aufmerksam machten und 36 Grundmotive (z.B. die Rettung, die Rache, die Strafe etc.) formulierten, die einen festen Kanon von möglichen Handlungen bilden1, hat erst ein Modell des 20. Jahrhunderts dazu verhelfen können, in der mythischen Grundlage von Geschichten eine einheitliche Struktur aufzuzeigen. In den 50er Jahren fand der Mythenforscher Joseph Campbell beim Vergleich tausender Mythen, Märchen und Religionsgeschichten heraus, dass ihnen ein einheitliches Schema zugrunde liegt. Anders als in der Theorie der 36 Motive liegt das Geheimnis bei Campbells Monomythos weniger im konkreten Inhalt von Geschichten als vielmehr in der strukturellen Aufreihung bestimmter Motive, die einen universellen Entwicklungsweg des Helden markieren. Die mythische Reise verläuft dabei immer in den drei Phasen Aufbruch, Initiation und Rückkehr, die sich wiederum in 17 einzelne Stufen unterteilen: Ein Held wird aus seinem bequemen Umfeld herausgerissen und muss einem Ruf folgen, der ihn zu einer bestimmten Aufgabe drängt. Er muss die lichte, unbeschwerte Welt verlassen und in die dunklen Tiefen der Unterwelt absteigen, um seine Mission zu erfüllen. Erst wenn er die Prüfungen der Unterwelt gemeistert hat, darf er selbige verlassen und muss sich nun der Herausforderung stellen, mit dem erlangten Wissen in die obere Welt zurückzukehren. 2

Es war nicht verwunderlich, dass auch Hollywood diesen mythischen »Bauplan« für sich entdecken würde, gibt er Drehbuchautoren und Dramaturgen doch offensichtlich ein Wundermittel für die perfekte Geschichte an die Hand. Bedenkt man, dass beispielsweise Spielberg-Filme geradezu akribisch nach dem mythischen Prototyp arrangiert wurden, möchte man an das Wundermittel glauben. Wäre es jedoch so unproblematisch und für jedermann möglich, das Campbell‘sche Raster mit einer Idee zu füllen, würde wohl kaum ein Film an der Kinokasse scheitern. Hinter dem handlichen Bauplan scheint sich also eine Dimension zu verbergen, die das eigentliche Geheimnis einer mythischen Erzählung enthält. Einer der wenigen, die sich des Phänomens der mythischen Reise im Film systematisch angenommen haben, ist der amerkanische Script Consultant Christopher Vogler. In seiner Odyssee des Drehbuchschreibers legt er Campbells Monomythos in vereinfachter Form dar, um ihn Drehbuchautoren für ihre Arbeit nahe zu bringen. Auch Vogler verweist darauf, dass ein bloßes Ausfüllen des Schemas mit kreativen Inhalten nicht automatisch zu einer mythischen und psychologisch überzeugenden Geschichte führt. Vielmehr versucht er deutlich zu machen, was in der mythischen Reise tatsächlich verborgen liegt: »Jede gute Story ist zugleich auch ein Abglanz einer umfassenden Geschichte – der universellen menschlichen Geschichte, deren Stationen Geburt, Aufwachsen, Lernen, Kampf um die eigene Individualität und schließlich Tod heißen.« 3 Vogler beruft sich dabei auf den schweizer Psychiater Carl Gustav Jung, der in seinen psychologischen Arbeiten dem Einfluss und der Funktionsweise von Archetypen – den psychischen Instanzen und Grundmustern von Figuren in Mythos, Traum und Literatur – auf den Grund geht. Demnach ist die mythische Reise weit mehr als ein dramaturgisches Raster. Sie ist die symbolische Manifestation unserer Lebensreise und ihren archetypischen Stadien, in der die unveränderlichen Sehnsüchte, Fragen und Probleme jedes Individuums ihren Ausdruck finden.

Tatsächlich kann C. G. Jung dazu beitragen, die mythische Reise in ein umfassenderes Licht zu rücken. Begreift man Erzählungen, die dem Monomythos folgen, als Parabel für unseren Lebensweg, wird die Faszination des Menschen für die Abenteuer jedweder Helden erahnbar. Monomythische Geschichten verbinden uns mit einem Schicksal, das über unserem persönlichen liegt. Sie machen den Weg des Helden zu unserem Weg und unser Weg wird Teil einer allgemein menschlichen Erfahrung. Das Schicksal des Einzelkämpfers löst sich auf in der Gewissheit, mit einem kosmischen Kreislauf von zyklischem Werden und Vergehen verbunden zu sein. Campbell selbst greift das Jung’sche Gedankengut im Ansatz auf, indem er die Entstehung mythischer Geschichten als psychischen Prozess versteht, der sich aus einem kollektiven Urgrund speist. Der gemeinsame Ausgangspunkt von Campbell und Jung bildet den Grundstein für einen Vergleich beider Theorien, der es erlaubt, Campbells Überlegungen von der Korrespondenz zwischen Mythos und Psyche um vielfältige Erkenntnisse zu erweitern.

Obwohl auch Vogler im Zusammenhang zwischen Erzählung und menschlicher Psyche die die Ursache für den Erfolg von Geschichten sieht, die nach dem Muster der mythischen Reise aufgebaut sind, bleibt er in seinem Buch jedoch bei einem hypothetischen Verweis auf oben beschriebenes Phänomen. Seine Einführung in das Thema lässt kaum einen der unzähligen Aspekte, die mit der mythischen Reise verbunden sind, vermissen. Wenn es jedoch um die detaillierte Vorstellung seines Modells und dessen Verwendung geht, beschränkt er sich weitestgehend auf dramaturgische Hinweise, sodass der konkrete Zusammenhang von Filmen mit monomythischer Struktur und der Lebensreise des Menschen im Verborgenen bleibt. Da jedoch in eben diesem Zusammenhang ein Schlüssel liegt für die symbolische Wirkungsweise von filmischen Erzählungen, hat es sich diese Arbeit zur Aufgabe gemacht, Voglers Ansatz um die fehlende Dimension zu ergänzen. Im Folgenden soll ein Überblick über Voglers Odyssee des Drehbuchschreibers dazu verhelfen, das Problemfeld zu konkretisieren und anhand bestimmter Kritikpunkte einen Leitfaden für die vorliegende Arbeit zu entwickeln.

Voglers Odyssee des Drehbuchschreibers beginnt mit einem hehren Versprechen im Vorwort, das eine tiefe Dimension an Erwartungen eröffnet:

»[W]enn wir heute Geschichten erzählen, haben wir immer noch Anteil an der uralten Energie des Mythos. Die Grundmuster des Mythos und sein archetypisches Personal bilden nach wie vor die Grundlage des modernen Geschichtenerzählens, und Autoren tun gut daran, sich mit diesen Elementen vertraut zu machen.« [Ebd., S. 10]

In den folgenden Kapiteln ist vom Mythos jedoch nur noch selten die Rede. Gemeinhin scheint es, als könnte man sich beim Begriff des Mythos auf einen Gemeinplatz verlassen, der sich allerorts des gleichen Verständnisses erfreut. Doch gerade wenn man, wie es Vogler anstrebt, an die Energie des Mythos appelliert und seine Korrespondenz in der menschlichen Seele sucht, ist es sinnvoll, sich den Begriff des Mythos und den bei weitem nicht einheitlichen Diskurs um ihn ins Gedächtnis zu rufen. Eine Einführung in den Umgang mit und das unterschiedliche Verständnis vom Mythos steht daher am Beginn der Arbeit und möchte den Leser für ein Thema sensibilisieren, das erst durch seine gegensätzlichen Positionen dazu verhilft, den Blick für die mythische Reise zu schärfen.

Nach Vorwort und Einführung gliedert sich Voglers Ratgeber in zwei Teile. Im ersten Teil führt er den Leser theoretisch in das Schema der mythischen Reise ein und macht ihn mit den einzelnen Etappen vertraut. Wie auch Campbell unterteilt er die Reise dabei in drei Abschnitte, die der klassischen Dreiaktstruktur entsprechen. Dabei stellt er seine Variante der von Campbell gegenüber, wobei deutliche Unterschiede erkennbar werden. In Voglers Variante der Heldenreise wird die starke Vereinfachung seiner Modifikation deutlich, wenn man den Blick vor allem auf den zweiten und dritten Akt richtet. Zahlreiche Stufen werden von Vogler pauschalisiert zusammengefasst:

Vogler Campbell
Erster Akt Aufbruch
Gewöhnliche Welt (Hütte oder Schloss des Alltags) 4
Berufung Berufung
Weigerung Weigerung
Begegnung mit dem Mentor Übernatürliche Hilfe
Überschreiten der ersten Schwelle Überschreiten der ersten Schwelle
Der Bauch des Walfischs
Zweiter Akt Initiation
Proben, Verbündete, Feinde Der Weg der Prüfungen
Annäherung an die geheimste Höhle
Äußerste Prüfung Die Begegnung mit der Göttin
Das Weib als Verführerin
Versöhnung mit dem Vater
Apotheose
Belohnung Die endgültige Segnung
Dritter Akt Rückkehr
Rückweg Verweigerung der Rückkehr
Die magische Flucht
Rettung von außen
Rückkehr über die Schwelle
Auferstehung Herr der zwei Welten
Rückkehr mit dem Elixier Freiheit zum Leben

Auf die konkrete Bedeutung der einzelnen Stufen soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, doch es liegt die Vermutung nahe, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Fehlen der tiefenpsychologischen und mythologischen Bezüge bei Vogler und der starken Vereinfachung seines Heldenreise-Modells, da erst das tiefere Verständnis für die Campbell’sche Symbolisierung eine Übertragung auf symbolisch aufgeladene Texte ermöglicht. Die Bedeutung der entsprechenden Stufen wird in den folgenden Kapiteln erläutert werden.

Nach der Einführung in die Heldenreise stellt uns Vogler sieben Archetypen vor, die jeder Geschichte als energetische Triebkräfte zugrunde liegen. Dabei unterscheidet er die folgenden:

Held  –  Mentor  –  Schwellenhüter  –  Herold
Gestaltwandler  –  Schatten  –  Trickster

Bei näherer Betrachtung der Archetypen-Thematik bei Vogler werfen sich gleich mehrere Fragen auf. Beispielsweise schreibt er: »Die Idee des Archetypus ist in der Tat ein unverzichtbares Werkzeug, wenn es darum geht, die Funktion eines bestimmten Charakters innerhalb einer Story zu begreifen.« 5 Doch was ist eigentlich ein Archetyp? Unter Berufung auf C. G. Jung beschreibt Vogler sie zwar als »uralte Persönlichkeitsmuster, die ein gemeinsames Erbe der gesamten Menschheit bilden«, doch wird er damit der komplexen Definition, die Jung von Archetypen gibt, nicht annähernd gerecht. Zwar ist diese kurze Erklärung ein Konsens unterschiedlicher Definitionen von Archetypen, die jene Jungs im Ansatz mit einschließt. Dieser knappe Konsens ist jedoch nicht ausreichend, um die Bedeutung von Archetypen im Zusammenspiel von Ontogenese und Phylogenese, Mensch und Geschichte, Mythos und Traum annähernd erfassen zu können. Dies hat zur Folge, dass Voglers Charakterisierung einzelner von ihm benannter Archetypen nur punktuell den Bogen zur psychischen Entwicklung des Menschen schlägt. Wo dies nicht der Fall ist, bleiben seine Archetypen-Beschreibungen – die unter dramaturgischem Gesichtspunkt durchaus ihre Berechtigung haben – eine Auflistung von Eigenschaften, deren Plausibilität sich aufgrund der Verknappung nicht selbstverständlich erschließt.

Aus dieser Verknappung heraus ergibt sich ein weiteres Problem, das näherer Untersuchung bedarf. Zwar bemüht sich Vogler darum, dem Leser den Unterschied zwischen stereotypen Figuren und archetypischen Funktionen deutlich zu machen, doch fällt es schwer, seinen Ausführungen diese Unterscheidung durchgehend zu entnehmen. Nicht nur tragen die unzähligen konkreten Eigenschaften, die Vogler einzelnen Archetypen zuschreibt, dazu bei, ein falsches Verständnis für die Entwicklung archetypisch motivierter Figuren zu entwickeln, auch explizit verstrickt sich Vogler in Widersprüche:

»Im modernen Geschichtenerzählen haben sich einige Genres mit jeweils eigenen Figuren herausgebildet. So begegnen uns im Western häufig ›die Hure mit dem goldenen Herzen‹ oder ›der arrogante West-Point-Leutnant‹, in Kriegsfilmen ›der raue, aber gerechte Sergeant‹, in der Kombination Krimi/Männerfreundschaft taucht nicht selten das Gespann ›guter Cop / böser Cop‹ auf. Doch all das sind lediglich Varianten und Weiterentwicklungen der Archetypen, auf die wir in den folgenden Kapiteln genauer eingehen werden.« 6

Mit dieser Aussage wirft sich die Frage auf, ob Vogler hier nicht einer Verwechslung bzw. Vermischung von Konzepten aufläuft, indem er Archetypen mit bestimmten Genrekonventionen gleichsetzt, welche eher stereotypen Charakter haben. Die Unterscheidung von Stereotypen und Archetypen ist für die Figurenentwicklung nicht unerheblich und wird daher ebenso wie die Frage nach dem Verhältnis von Archetypen und Genres im dritten Teil der Arbeit diskutiert werden.

Im zweiten Teil des Buches führt Vogler die einzelnen Etappen der Heldenreise umfassender aus und verwebt sie mit seinem Konzept der Archetypen. Er erläutert die dramaturgischen Eigenheiten der einzelnen Stufen an zahlreichen Filmbeispielen und gelegentlich an Beispielen aus der Mythologie. Bei tiefer gehender Betrachtung stellt sich jedoch die Frage nach dem Zusammenhang der beiden Konzepte. Bei Vogler wird nur sehr unzureichend deutlich, inwiefern Heldenreise und Archetypen in einer Wechselwirkung stehen. In den folgenden Kapiteln soll es daher in besonderem Maße auch um die Frage gehen,  wie Archetypen und Heldenreise zueinander in Beziehung stehen, und zwar nicht nur in der dramaturgischen Phänomenologie, sondern in ihrem Ursprung aus Sicht der Tiefenpsychologie.

  1. Vgl. Krützen 2004, S. 63 f
  2. Vgl. Joseph Campbell (1999): Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a. M.
  3. Vogler 1997, S. 61
  4. Vogler hat selbst das Schema Campbells verändert, z.T. im Wortlaut, z.T. hat er Stufen hinzugefügt. An dieser Stelle ist der originale Ablauf der mythischen Reise aufgeführt, wie er in Campbells Der Heros in tausend Gestalten zu finden ist. Lediglich diese Hinzufügung Voglers habe ich in die Gegenüberstellung übernommen, da sie eine sinnvolle Ergänzung darstellt.
  5. Ebd., S. 58
  6. Ebd., S. 62 f