Der Mythos in der Theorie

Der griechische Wortursprung des Begriffs Mythos steht für »Wort«, »Rede«, »Erzählung« oder »Fabel« 1 und ebenso facettenreich wie sein etymologischer Ursprung ist auch das geschichtlich gewachsene Verständnis des Begriffs. Gemeinhin bezeichnet der Mythos eine Erzählung von Göttern und Helden aus vorgeschichtlicher Zeit, gleichzeitig meint »Mythos« nicht selten die sich in der Erzählung ausdrückende Weltdeutung eines archaischen Bewusstseins. So stark sich die Auffassungen unterschiedlicher wissenschaftlicher Strömungen auch unterscheiden, der kleinste gemeinsame Nenner des Mythenbegriffs dürfte sich auf den Konsens belaufen, im Mythos handle es sich um Erzählungen, in denen die »letzten« Fragen der Menschen über die Ordnung von Welt und Kosmos thematisiert werden und von einem Ursprung her verständlich gemacht werden. 2

Dementsprechend erstrecken sich die Themen der Mythen über alle Bereiche des Lebens, in denen der Mensch sich mit Sinnfragen konfrontiert sieht. Zu den typischen Themen des Mythos gehören kosmogonische Motive wie die Schöpfung der Welt und die Geburt von Göttern und Menschen, ebenso wie eschatologische Motive über den Untergang der Welt. Mythen berichten über diesseitiges und jenseitiges Geschehen und geben damit eine ontologische Orientierung für die eigene Verortung im kosmischen Gefüge sowie eine moralische Orientierung für das alltägliche Handeln. Schließlich erzählen Mythen Geschichten über die Lebensphasen des Menschen, über deren Aufgaben und Rituale, und schließlich über Tod und Wiedergeburt, die wie kaum ein anderes Motiv den zyklischen Charakter der Natur und des Mythos zum Ausdruck bringt.

Im Allgemeinen wird die Entstehung von Mythen einer archaischen Zeit zugeschrieben, einem unbestimmten Damals, einem zeitlich nicht zu bezeugenden Zeitalter. Selbst wenn die Anthropologie bestimmten Mythen ihre zeitliche Entstehung nachweisen kann, zeugt diese ungenaue Vorstellung vom Ursprung des Mythos von einem entscheidenden Wesensmerkmal, nämlich seiner Ungeschichtlichkeit. 3 Im Gegensatz zu unserer linearen Geschichtsschreibung haben wir es bei Mythen nicht mit einmalig auftretenden Artefakten zu tun, sondern mit einem motivischen Material, das sich durch eine zyklische Wiederkehr auszeichnet. Selbst wenn einzelne Mythen durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Vergessenheit geraten, liegt es im Wesen des Mythos, sich in regelmäßigen Abständen immer wieder selbst zu reproduzieren und sich in neuem Gewand wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Eine verbindliche und zuverlässige Definition vom Mythos vorlegen zu wollen ist ein illusorisches Unterfangen, denn die Numinosität, die mythischen Erzählungen zueigen ist, entzieht sich einer rationalen Beschreibbarkeit. Überdies war der Mythos im Laufe der Jahrhunderte einem Diskurs ausgesetzt, der von unterschiedlichsten ideologischen Motivationen und zum Teil gegensätzlichen erkenntnistheoretischen Paradigmen geprägt ist. So muss mit einer heterogenen Darstellung des Mythenbegriffs vorlieb genommen werden. Um den philosophischen und wissenschaftlichen Zugang zum Mythos in seiner Vielfältigkeit darzustellen, sollen im Folgenden unterschiedliche Ansätze und Forschungstraditionen exemplarisch vorgestellt werden, wodurch die Komplexität des Forschungsgegenstandes »Mythos« und seine entscheidenden Streitpunkte deutlich werden.

  1. Vgl. Brockhaus Bd. 15, S. 309
  2. Vgl. ebd., S. 309
  3. Vgl. ebd., S. 309 f