Mythenforschung des 20. Jahrhunderts

Als Anhänger der strukturalen Sprachwissenschaft versuchte der Soziologe und Anthropologe Claude Lévi-Strauss die Erkenntnisse des Sprachforschers Ferdinand de Saussure auf die Mythologie zu übertragen. Ebenso wie Saussure das sprachliche Zeichen streng von seiner Bedeutung trennt, ist auch der grundlegende Gedanke der strukturalen Anthropologie, dass kleinste mythische Erzähleinheiten keine immanente Bedeutung enthalten, sondern Bedeutung erst durch eine bestimmte Kombination von Erzähleinheiten generiert wird. Die Art und Weise, wie Mytheme in der Struktur des Mythos miteinander kombiniert werden, lässt nach Lévi-Strauss Rückschlüsse auf die sozialen Strukturen archaischer Kulturen zu. Seine Methode besteht im Wesentlichen darin, den mythischen Inhalt »durch allmähliche Vereinfachung logischen Operationen zu unterwerfen, sodass man schließlich das Strukturalgesetz des betreffenden Mythos erhält.« 1 Einen anderen Zugang hält er für schlicht nicht machbar, um bei einer nahezu unüberschaubaren Anzahl mythischer Varianten entscheidende Gemeinsamkeiten auszumachen. »Es besteht wirklich wenig Hoffnung, eine vergleichende Mythologie zu entwickeln, wenn man nicht an einen Symbolismus mit mathematischer Inspiration appelliert, der sich auf mehrdimensionale Systeme, die für unsere herkömmlichen empirischen Methoden zu komplex sind, anwenden lässt.« 2

Während sich Lévi-Strauss noch an einem anthropologisch tradierten Verständnis vom Mythos orientierte, weicht Roland Barthes von einer konventionellen Definition ab und entwickelt stattdessen einen zeitgenössischen Mythenbegriff, der mit archaischer Symbolik nichts mehr zu tun hat. Alles innerhalb eines Diskurses kann demnach zum Mythos werden, da es für Barthes zwar formale, aber keine inhaltlichen Kriterien gibt. Für ihn ist der Mythos »ein reines ideographisches System, in dem noch die Formen durch den Begriff motiviert sind, den sie darstellen, ohne sich jedoch im Geringsten mit deren Darstellung zu erschöpfen.« 3 Mythenträger können Bilder, Filme, Werbung, Sport, Fotografien, Texte und vieles mehr sein, solange sie eine metasprachliche Ebene enthalten, durch die eine Bedeutung generiert wird, die über der rein objektsprachlichen Botschaft liegt. Indem der Mythos feststellt statt zu erklären, entbindet er das Dargestellte von seiner Historizität und verwandelt es in Natur. Diese Enthistorisierung entspricht laut Barthes einer Entpolitisierung, weshalb er Mythen als Selbsterhaltungsgrößen des Kapitalismus begreift, der sich durch die fortwährende Produktion von Mythen über sich selbst eine Erhaltung der Machtstrukturen sichert. Die Betrachtung von Mythen ist bei Barthes also eng verknüpft mit einer Gesellschaftskritik. Die Mythen des Alltags zu entlarven, sie zu dekonstruieren und ihnen einen künstlichen Mythos entgegen zu setzen, ist für ihn die beste Waffe gegen den Mythos selbst und ein notwendiger Schritt Richtung Aufklärung.

Im Gegensatz zu Barthes hält Ernst Cassirer die Vorstellung vom Menschen als animal rationale für höchst ungeeignet, da die Mannigfaltigkeit von Kultur mit dem Begriff der Vernunft nur höchst unzureichend zu erklären sei. Stattdessen sei der gesamte Fortschritt der menschlichen Kultur auf der Fähigkeit zum symbolischen Denken aufgebaut und der Mensch daher vielmehr ein animal symbolicum. Da der Mensch dank seines symbolischen Bewusstseins in der Lage ist, die Real-Existenz und die Bedeutungsexistenz der Symbole zu dechiffrieren, sind in Religion, Mythos, Sprache und Kunst die symbolischen Formen in Emanationen miteinander verbunden. 4 Selbst wenn sich die konkrete Ausformung der Symbole auch im Laufe der Zeit ändern mag, bleibt das Prinzip der Symboltätigkeit konstant und speist sich aus dem Urgrund des Mythos. »Im Mythos stoßen wir auf die ersten Versuche, die Dinge und Ereignisse in eine chronologische Ordnung zu bringen, eine Kosmologie und eine Genealogie der Götter und Menschen zu entwerfen.« 5 Mythische Zeit ist daher ewige Zeit und die Vergangenheit des »Damals« ist gleichsam hier und jetzt. Cassirers Verdienst ist es vor allem, die Rolle des mythischen Denkens für die geistige Orientierung des Menschen wieder entdeckt zu haben.

Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade hingegen begreift Mythen und Symbole nicht als kulturelle Werkzeuge des Menschen, sondern macht auf die Existenz eines unverwüstlichen Symbolschatzes aufmerksam, aus dem sich der Mythos immer wieder neu erschafft. Symbol und Mythos gehören für ihn zur Aktualität der Psyche und können zwar entwertet, verfälscht oder verstümmelt, nicht aber ausgerottet werden. 6 »Wohl steht dem modernen Menschen die Missachtung der Mythologien, der Theologien frei, aber sie kann ihn nicht daran hindern, seine Nahrung weiterhin aus den verunstalteten Bildern und entwerteten Mythen zu beziehen.« 7 Mythen erfüllen für ihn die Funktion, beispielhafte Paradigmen zu liefern, die den Menschen ein Vorbild zur Nachahmung bieten. »Die Mythen bewahren und vermitteln die Paradigmen, die beispielhaften Vorbilder, für das gesamte verantwortliche Handeln des Menschen. Kraft dieser beispielhaften Vorbilder, die den Menschen in mythischen Zeiten offenbart wurden, werden Kosmos und Gesellschaft wiedergeschaffen.« 8 Handlungen und Gegenstände der Außenwelt besitzen daher keinen selbständigen inneren Wert, sondern Wirklichkeit und Identität erhalten sie erst durch die Teilhabe an einer transzendenten Wirklichkeit, die sich durch die Wiederholung einer urtümlichen Handlung vollzieht.

  1. Lévi-Strauss 1977, S. 240
  2. Ebd., S. 241
  3. Barthes 1964, S. 110
  4. Vgl. Röll 1998, S. 87
  5. Cassirer 1990, S. 264 f zitiert nach ebd., S. 87 f
  6. Vgl. Eliade 1988, S. 18 zitiert nach ebd., 91
  7. Eliade 1988, S. 21 zitiert nach ebd., S. 91
  8. Eliade 1994, S 11 zitiert nach ebd., S. 94