Mythenverständnis im Wandel der Zeit
Schon im antiken Griechenland findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher Auffassungen vom Mythos und seiner Bedeutung, womit sich bereits das breite Feld der späteren Forschungstraditionen eröffnet. Während die allegorische Interpretation der Mythen – zu deren Anhängern beispielsweise Plutarch gehörte – auf einen naturphilosophischen oder metaphysischen »Hintersinn« in den oft anstößigen Mythen verwies, reduzierte Euhemeros die mythischen Helden auf reale Berühmtheiten der Vergangenheit. 1 Plato hingegen lehnte die traditionelle Überlieferung der Mythen als gefährlich ab, da er ihnen einen politisch erziehenden Charakter zusprach. Stattdessen plädierte er für neue, philosophisch gereinigte Mythen. 2 Aristoteles schätzte die Mythen als Kulturgut, da er sie als Vorstufe zur Philosophie betrachtete, in der sich das Wissen der Vorzeit konservierte. 3
Das frühe Christentum sah in der Mythologie eine heidnisch-polytheistische Konkurrenz-Theologie, von der es sich abzugrenzen und selbige zu entlarven galt. Das etablierte Christentum des Mittelalters hatte diese Distanz schließlich erreicht und konnte sich auf die vorchristlichen Mythen zurückbesinnen. So erkannte man Mythen als Bildungsgut und nutzte sie überdies sogar zur Bibelexegese. Dieses Interesse keimte später verstärkt in der Renaissance und im Humanismus weiter auf, wobei vor allem die Zusammenhänge zwischen Bibel und nicht-christlichen Mythen für Aufmerksamkeit sorgten.
Dieses sympathisierende Verhältnis zum Mythos wandelte sich mit der Aufklärung drastisch. Durch seinen verklärten und impliziten Charakter war der Mythos während der Aufklärung Teil jener zu überwindenden Weltanschauung, deren metaphysische Züge zur Verfestigung von Herrschaftsansprüchen dienten. So galten Mythen als gezielte Täuschungen und Betrügereien habgieriger und machthungriger Priester. Zudem schrieb man ihren Ursprung einer früheren Entwicklungsstufe des Menschen zu, von der es sich nun zu emanzipieren galt. 4 Wie bis dato der Mythen-Begriff einer zyklischen Umbewertung unterworfen war, war auch die Auffassung der Aufklärung von ihren Nachfolgern in Frage gestellt.
Das Mythenverständnis der Romantik wurde eingeläutet durch die Götterlehre oder Mythologische Dichtung der Alten (1791) von K.P. Moritz, der Mythen als Kunstwerke verstand, die keinerlei Deutung bedurften, erst recht keiner allegorischen. 5 Diese Auffassung wurde zu einem Leitgedanken der Romantik, der ihre Kritik am Rationalitäts- und Fortschrittsglauben der Aufklärung unterstützte. Vor allem von den Dichtern der Romantik erfuhr der Mythos eine erneute Aufwertung, wobei sie in ihrer Arbeit auf griechische, nordische und später auch indische Mythen zurückgriffen. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlief der Mythos eine erneute Umbewertung, die diesmal vor allem von den Fortschritten in Wissenschaft und Technik vorangetrieben wurde. Während Darwin und Wallace mit ihren Evolutionstheorien die Naturwissenschaften reformierten, musste sich ein Niederschlag dessen zwangsläufig auf die ethnologische und anthropologische Forschung auswirken. So wurde der Mythos für die Völkerpsychologie und Ethnologie zu einem Objekt nüchterner Forschung, dem man sich mit ausreichender Distanz näherte. Mythische Phänomene galten dabei in der Regel als natürliche Reflexe des Geistes primitiver Völker bzw. als Produkte defizitärer Sprache. 6