Mythos und Aufklärung

Auch Horkheimer und Adorno betrachten den Zusammenhang von Machtverhältnissen und ihrer Konstituierung im Denken. Doch anders als Barthes warnen sie vor einer Überschätzung des menschlichen Verstandes. In der Überschätzung des Verstandes vermuten sie den Grund dafür, warum die Menschheit in eine neue Art von Barbarei versinkt, statt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, wie es die fortschreitende Aufklärung verlangen müsste. 1 Sie unterscheiden dabei aufgeklärtes von mythischem Denken, wobei ersteres aus letzterem entstand. Zum Programm der Aufklärung gehörte es, sich vom Mythos radikal zu trennen, ihn aufzulösen und die ihm innewohnende Einbildung durch objektivierbares Wissen zu ersetzen. Dem Paradigma der Objektivität entsprechend war das Ziel der aufgeklärten Wissenschaft nicht mehr die Suche nach Sinn, sondern lediglich das Aufdecken der Prinzipien von Ursache und Wirkung. Dieser Ablehnung des mythischen Denkens wohnt laut Horkheimer und Adorno jedoch eine Tautologie inne, die den alleinigen Gültigkeitsanspruch des aufgeklärten Denkens in Frage stellt. Denn »die Mythen, die der Aufklärung zum Opfer fallen, waren selbst schon deren eigenes Produkt.« 2

Durch die wissenschaftliche Kalkulation des mythischen Denkens werden Intention und Botschaft des Mythos negiert. Auch der Mythos war einst klärende Lehre, als welche sich die Aufklärung später verstand. Er »wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären.« 3 Die Mythologie selbst sei nach Horkheimer und Adorno die Quelle der Aufklärung und so werden auch ihre wesentlichen Begriffe – die des Geistes, der Wahrheit und der Begriff der Aufklärung selbst – zu einem animistischen Zauber. »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann.« 4

Mit ihrer Kritik an der Überschätzung der Vernunft liefern uns Horkheimer und Adorno einen entscheidenden Impuls für das Verständnis des mythischen Denkens und lassen seinen Einfluss auf jedweden Zivilisations- und Erkenntnisprozess des Menschen deutlich werden. Vor allem aber die qualitative Unterscheidung von mythischem und aufgeklärtem Denken und ihrer jeweiligen Abhängigkeiten voneinander ist für das Verständnis des Mythos von Bedeutung, wenn es im Folgenden darum gehen wird, mythische Phänomene als Manifestation psychischer Prozesse aufzufassen, deren rationale Beurteilung erst möglich wird, wenn man sich ihres Ursprungs und damit ihrer eigenen Dynamik bewusst wird. Die Gedanken Horkheimers und Adornos sind im Kontrast zu jenen Roland Barthes’ ein repräsentatives Beispiel für die Kluft, die sich heute noch in der Mythenforschung auftut. Der Mythos als eine bewusste Fiktion bzw. als Ausdruck kindlich-primitiven Denkens ist die Position jener, die ihn als minderwertige und zu überwindene Denkweise betrachten. Für die Anhänger der anderen Tradition birgt der Mythos eine Weisheit in sich, die für die wissenschaftliche Vernunft unerreichbar bleiben wird. Diese Grundsatzpositionen dialektisch auszufechten wird schlicht unmöglich bleiben, berühren sie doch nicht unbeträchtlich die erkenntnistheoretischen Grundfesten unseres zeitgenössischen Wissenschaftsbildes. Jedwede Ausführung im Folgenden ist daher stets vor dem Hintergrund der Unvereinbarkeit der jeweiligen Schulen und ihrer Tradition zu betrachten.

  1. Ihre Ausführungen entstanden unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, wobei sie sich jedoch nicht ausschließlich auf die Greueltaten der Nazis beziehen, sondern ebenfalls das ausschließlich positivistisch und materialistisch orientierte Wissenschaftsbild in Frage stellen.
  2. Horkheimer/Adorno 1992, S. 14
  3. Ebd., S. 14
  4. Ebd., S. 18