Grundbegriffe der Analytischen Psychologie

Bewusstsein und Unbewusstes

Was die Analytische Psychologie, die von C. G. Jung begründet und von etlichen Nachfolgern weiterentwickelt wurde, von anderen tiefenpsychologischen Schulen unterscheidet, ist zweifelsohne ihr Bewusstseinsmodell, das als Grundlage für ihre Auffassungen deutlich andere Schlüsse und interdisziplinäre Verknüpfungen zulässt als dies in der Psychologie von z.B. Freud oder Adler möglich war. Denn anders als seine Vorläufer und Zeitgenossen ging Jung davon aus, dass die menschliche Psyche nicht nur als Speicher persönlicher Erfahrungen fungiert, sondern eine weitere, eine kollektive Dimension enthält, die unsere seelische Entwicklung maßgeblich beeinflusst.

Das Bewusstsein stellt dabei im großen Komplex der menschlichen Psyche nur einen winzigen Teil dar, der im Laufe der Menschheitsentwicklung als Produkt später Differenzierung entstanden ist. Im Gegensatz zu unserem überwiegend positivistisch geprägten Bewusstseinsbild, in dem der Verstand als des Menschen größte Kraft aufgefasst wird, warnt Jung davor, die Bedeutung des Bewusstseins für das menschliche Denken und Handeln zu überschätzen und plädiert dafür, der Erkundung des Unbewussten eine größere Aufmerksamkeit zu schenken.

Das persönliche Unbewusste ist jener Teil unserer Psyche, in dem Inhalte aufbewahrt werden, die sich im Laufe unseres Lebens, d.h. aus unserer individuellen Erfahrung angesammelt haben und sich unserem Bewusstsein vollständig oder zumindest temporär entziehen. Dazu zählt »Vergessenes, Verdrängtes, auch unterschwellig Wahrgenommenes, Gedachtes und Gefühltes aller Art«. 1

Das kollektive Unbewusste ist das wohl meistbeschriebene und -erforschte Terrain der menschlichen Psyche in Jungs Werk, womit jedoch keinerlei Wertung verbunden ist. Im Gegensatz zum persönlichen Unbewussten sind die Inhalte des kollektiven Unbewussten weder spezifisch für unser individuelles Ich noch aus persönlicher Erfahrung erwachsen. Vielmehr handelt es sich dabei um die Möglichkeit des psychischen Funktionierens überhaupt – um die ererbte Hirnstruktur, die allgemein menschlicher, möglicherweise sogar tierischer Natur ist und die Grundlage bildet für alles individuell Psychische. Das kollektive Unbewusste ist also als eine Art Urstruktur unserer Seele zu verstehen, eine genetische Programmierung, in der sich die Erfahrung der gesamten Menschheitsgeschichte von Generation zu Generation weitervererbt, unabhängig von historischen, ethnischen, religiösen oder anderen Einflüssen. So gehen zum Beispiel typische Reaktionsweisen in Situationen allgemein menschlicher Natur wie Angst, Gefahr, Kampf oder auch typische Beziehungsmuster wie die Beziehung von Mutter und Kind, die Beziehung der Geschlechter, die von Kindern zu ihren Eltern etc. auf die Jahrtausende alte Erfahrung des kollektiven Unbewussten zurück und leben in uns fort, unabhängig von Sozialisation und Erziehung.

Eine wesentliche Eigenschaft von Bewusstsein und Unbewusstem ist ihr kompensatorisches Zusammenspiel. Aus dieser kompensatorischen Wirkung leitet Jung nahezu all seine Schlussfolgerungen über Wahrnehmung und Verhalten des Menschen ab. Strebt das Ich eines Menschen beispielsweise nach einer stark intellektuellen Sicht auf die Dinge, kumuliert das Unbewusste folglich alle sentimentalen Neigungen in ebenso verstärkter Form und bringt sie auf subtilerem, vom Ich nicht kontrollierbarem Wege zum Ausdruck, z.B. in einem übersteigerten Hang zu sentimentalen Partnern.

Die Individuation

Als Individuation bezeichnet Jung das natürliche Wachstum und die altersmäßig bedingte Reifung der Psyche, also die seelische Entsprechung zum körperlichen Alterungsprozess, die sich weitestgehend ohne besonderes Hinzutun des Menschen vollzieht. Dabei teilt Jung diesen Prozess in zwei Abschnitte:

In der ersten Lebenshälfte liegt das Augenmerk der Entwicklung auf der »Initiation in die äußere Wirklichkeit«, d.h. in der Herausbildung und Stärkung des Ich. Das Ich als Zentrum unseres Bewusstseins ist dafür zuständig, das willentliche Handeln des Menschen zu steuern und ist unsere wichtigste psychische Instanz, wenn es in der ersten Lebenshälfte darum geht, sich von der elterlichen Bindung zu lösen und das schützende Heim zu verlassen. Es ist die Instanz, die uns zu einem sexuell aktiven Menschen werden lässt, zu einem eigenständigen Individuum, das es sich durch einen selbst entwickelten Willen und die Fähigkeit zur Selbstbehauptung ermöglicht, sich als Erwachsener in der Welt zu positionieren, eine Familie zu gründen und diese eigenverantwortlich zu versorgen.

Sind diese äußerlichen Aufgaben erfüllt, wird das Individuum mit neuen Herausforderungen der Entwicklung konfrontiert. So wie es der Weg der ersten Lebenshälfte war, das Individuum in der äußeren Welt zu etablieren, führt der Weg des nun folgenden Lebensabschnitts nach innen. In der zweiten Lebenshälfte ist das Ziel nach Jung die »Initiation in die innere Wirklichkeit«, d.h. die Herausbildung und Stärkung des Selbst. Dass das Selbst keine psychologisch konstruierte Größe ist, bezeugt die Tatsache, dass die Menschheit seit Urzeiten eine Ahnung von der Existenz dieses »Seelenkerns« hatte: Die Griechen nannten ihn den inneren Daimon, die Römer Genius und in Ägypten war er die stern- oder vogelgestaltige Ba-Seele. Als überpersönlicher Aspekt unserer Psyche ist das Selbst zum Teil im Bewusstsein angesiedelt, ragt jedoch zum überwiegenden Teil ins Unbewusste hinein. Es ist jener Teil des menschlichen Wesens, der über willentliche Ich-Belange, die stets durch äußere Bedingungen mit beeinflusst werden, erhaben ist und in kumulierter Form jene Potentiale enthält, die ein Mensch im Laufe seines Lebens maximal erschließen kann. In der Herausbildung des Selbst kommt es für das Individuum darauf an, sich den Tiefen seines Unbewussten zu öffnen und auch jene Persönlichkeitsanteile und Wesenszüge anzuerkennen, die Angst einflößen, moralischen Vorstellungen widersprechen oder aus anderen Gründen nur ein mäßiges Ansehen genießen. Das angestrebte Ziel dieses Prozesses ist die Integration aller Persönlichkeitsanteile, sowohl der geliebten als auch der gefürchteten, und damit die Herstellung psychischer Ganzheit.

Der Weg dorthin führt laut Jung über die Sprache des Unbewussten, das in Träumen und Fantasien selbständig nach dieser Entwicklung verlangt. Daher sei es notwendig, die im Traum auftauchenden Botschaften nicht zu ignorieren, sondern die Symbolsprache des Unbewussten bestmöglich verstehen zu lernen, selbst wenn dies mit erheblichen Unbequemlichkeiten für das Individuum verbunden ist. Da das Unbewusste niemals vollständig bewusst gemacht werden kann, ist auch die Erreichung absoluter Ganzheit unmöglich. Dennoch bleibt das Streben danach eine lebenslange Aufgabe und eine aktive, über das natürliche psychische Wachstum hinausgehende Arbeit an der eigenen Persönlichkeit hält Jung für unerlässlich, wenn es darum geht, sich von der »Ununterschiedenheit und Unbewusstheit der Herde« 2 zu lösen und Ja zur eigenen Bestimmung zu sagen, um schließlich zum eigenen Selbst zu werden.

Archetypen

Diese tiefen Urkräfte, die im Unbewussten des Menschen angesiedelt sind, bilden das Herzstück der Jung’schen Psychologie. Sie sind ordnende Instanzen unserer Psyche, die wir im Laufe der menschlichen Entwicklung als Menschheit erlernt und als Individuen schließlich ererbt haben. Jung bezeichnet sie als psychische Organe, die analog zu den körperlichen Organen bestimmte Funktionen erfüllen. Werden diese Funktionen beeinträchtigt, entwickeln sich Krankheiten, die auf seelischer Ebene zu neurotischen oder gar psychotischen Störungen führen können. Auf das Phänomen der Archetypen wurde Jung aufmerksam als ihm auffiel, dass in den Träumen und Fantasien seiner Patienten ebenso wie in Delirien und Wahnideen unabhängig der kulturellen Herkunft des Patienten die gleichen Figuren, Symbole und Kräfte auftraten, wie sie auch in Mythen und Märchen zu finden sind. Da sie sich vor allem bei gemindertem Bewusstseinszustand zeigen, schlussfolgerte er, dass nicht etwa ein kultureller Lernprozess hinter diesen seelischen Bildern steckt, sondern eine ererbte Anlage, diese Bilder zu produzieren. Aus biologischem Verständnis sind die Archetypen jedoch nicht als Vererbung einer konkreten Vorstellung oder eines konkreten Bildes zu verstehen, sondern als psychischer Modus, eben jene Bilder unter bestimmten Umständen produzieren zu können.

»Der Ausdruck ›Archetyp‹ wird oft als bestimmtes mythologisches Bild oder Motiv missverstanden. Aber solche Bilder sind nur bewusste Darstellungen; es wäre absurd, anzunehmen, solche variablen Bilder könnten vererbt werden. Der Archetyp ist vielmehr eine angeborene Tendenz, solche bewussten Motivbilder zu formen – Darstellungen, die im Detail sehr von einander abweichen können, ohne jedoch ihre Grundstruktur aufzugeben.« 3

Wenngleich sich diese Grundstruktur in Mythen und Träumen immer wieder in ähnlichen Gestalten formiert, sind Archetypen weitestgehend formal, jedoch nicht inhaltlich bestimmt. Das bedeutet, die grundlegende psychische Struktur ist in ihrer Existenz universell, die aus ihr in Erscheinung tretenden Archetypen sind in ihrer Zahl jedoch nicht vom menschlichen Verstand bestimmbar. Generell ließen sich laut Jung die Archetypen in ihrer Bedeutung zwar um-, nicht jedoch beschreiben, da jedwede Konkretisierungen der Archetypen und ihrer Inhalte Produkte des Bewusstseins seien und ihrem eigentlichen Wesen damit nicht einmal ansatzweise gerecht würden. Denn zu ihrem Wesen gehört es vor allem, dass sie im Unbewussten des Menschen weitgehend ein Eigenleben führen, welches sich unserem Bewusstsein schlichtweg entzieht.

Dass die Archetypen trotz ihrer unkonkreten Natur in der Psychologie Jungs dennoch mehr oder minder konkret werden indem Jung sie personifiziert, erklärt er folgendermaßen: »Worauf es vor allem ankommt, ist die Unterscheidung zwischen dem Bewusstsein und den Inhalten des Unbewussten. Diese muss man sozusagen isolieren, und das geschieht am leichtesten, indem man sie personifiziert und dann vom Bewusstsein her einen Kontakt mit ihnen herstellt.«  4 Erscheint uns eine archetypische Kraft im Traum, haben wir es also nicht mit dem Archetyp in Reinform zu tun. Er ist lediglich die ordnende Struktur, die im Traum Regie führt. Je nachdem wie tief im Unbewussten ein Archetyp angesiedelt ist, macht er unterschiedlich starken Eindruck auf den Träumer. Es gehört zum Wesen archetypisch motivierter Träume, dass sie den Träumer emotional stark beeindrucken und bis hin zu einer numinosen Wirkung führen können.

Archetypen können sich dem Menschen auf zweierlei Weise darbieten. Die erste, bereits erwähnte, ist die Möglichkeit der Symbolbildung bei gemindertem Bewusstseinszustand. Was sie von der zweiten Variante unterscheidet, ist ihre innerliche Repräsentation. Äußerlich hingegen können sich die Archetypen in einem Vorgang der Projektion manifestieren. Dabei werden eigene, einem bestimmten Archetyp zugehörige Persönlichkeitseigenschaften auf andere Personen oder Dinge projiziert. Das Individuum nimmt also Merkmale im Außen wahr, ohne zu erkennen, dass es sich dabei um seine eigenen psychischen Inhalte handelt. Von Bedeutung ist der Mechanismus der Projektion vor allem in bestimmten Lebensphasen, in denen innerliche Entwicklungen im Außen ausagiert werden. Dazu gehört beispielsweise die Wahl eines Partners, der in diesem Fall als Projektion der gegengeschlechtlich gefärbten Persönlichkeitsanteile in aller Regel die charakterlichen Qualitäten der eigenen Psyche trägt. Auch die Produktion von Mythen und Geschichten geht auf die Fähigkeit zur Projektion zurück, wobei mithilfe von Symbolen archetypische Inhalte in eine äußere Form gebracht werden.

Symbole

Sie sind Ausdrucksformen des Unbewussten und nach Jung neben der Untersuchung von Projektionen die einzige Möglichkeit, selbiges zu erschließen. Um die Bedeutung von Symbolen für die psychologische Arbeit zu erfassen, ist es notwendig, sich ihre Abgrenzung zum Zeichen zu vergegenwärtigen: Während Zeichen durch die bewusste Zuschreibung von Inhalt gekennzeichnet sind, werden Symbole vom Unbewussten produziert. Dadurch enthalten sie naturgemäß eine Dimension, die sich der rationalen Erfassbarkeit und verbalen Beschreibbarkeit entzieht.

»Das, was wir Symbol nennen, ist ein Ausdruck, ein Name oder auch ein Bild, das uns im täglichen Leben vertraut sein kann, das aber zusätzlich zu seinem konventionellen Sinn noch besondere Nebenbedeutungen hat. Es steht für etwas Unbestimmtes, Unbekanntes oder für uns Unsichtbares. … Ein Wort oder ein Bild ist symbolisch, wenn es mehr enthält, als man auf den ersten Blick sehen kann. Es hat dann einen weiteren ›unbewussten‹ Aspekt, den man wohl nie ganz genau definieren kann. So gelangt der menschliche Geist bei der Erforschung von Symbolen zu Vorstellungen, die sich dem Zugriff des Verstandes entziehen.« 5

Im Traum setzen Archetypen die Symbolbildung in Gang und sorgen für ihre sinnvolle Anordnung. »Sinnvoll« heißt in diesem Fall jedoch nicht zwangsläufig logisch-rational nachvollziehbar, sondern der Sinn ergibt sich aus dem Ziel, das der jeweilige Archetyp anstrebt. Dieses ist stets auf einen psychischen Entwicklungsprozess ausgerichtet, sodass sich die Sinnhaftigkeit einer symbolischen Traum-Inszenierung aus ihrer Zweckmäßigkeit für die Entwicklung des Individuums ergibt. So werden die Archetypen stets symbolische Darstellungen wählen, die auf den Träumer eine möglichst starke Wirkung ausüben und ihn damit emotional bzw. affektiv erreichen. Die symbolische Darstellungsweise ist dabei keinesfalls festgelegt. So kann sie von konventionell geprägten Bildern bis hin zu höchst individuell gefärbten Erscheinungen reichen, je nachdem, was auf den Träumer den stärkeren und verständlichsten Eindruck macht.

Diese Flexibilität der Symbole macht das Entschlüsseln der Traumbotschaft zu einer nicht immer einfachen Angelegenheit, daher muss die individuelle Situation des Träumers stets Berücksichtigung finden, wenn zwischen kollektiver oder persönlicher Bedeutung eines Symbols unterschieden werden soll. Es ist jedoch eine zu beobachtende Tatsache, dass die symbolischen Erscheinungen zunehmend universeller werden und bis hin zu abstrakten Darstellungsformen führen, je tiefer eine Traumbotschaft und ihr dazugehöriger Entwicklungsschritt im Unbewussten angesiedelt ist. Nur so ist es zu erklären, dass die Archetypen unterschiedlichster Mythen, Märchen und Träume auf das gleiche oder ein ähnliches Symbol-Vokabular zurückgreifen.

Ein entscheidender Verdienst Jungs in der Entwicklung seiner Traumdeutung ist die Unterscheidung von Symbolen in subjektive und objektive Erscheinungen. Vor allem im Hinblick auf das Verständnis von Mythen ist es hilfreich, sich die Deutung von Traumsymbolen auf der subjektstufigen und der objektstufigen Ebene zu verdeutlichen. Auf letzterer werden symbolische Erscheinungen wie Figuren und Gegenstände im Traum eines Menschen als das betrachtet, was sie sind. Personen aus dem engeren Umfeld, das reale Haus, in dem man lebt, oder der Tisch, an dem der Träumer möglicherweise sitzt, werden aus objektstufiger Sicht als Bezug zu den real existenten Objekten aufgefasst. Auf subjektstufiger Ebene hingegen versteht Jung Figuren und Objekte als symbolisierte Anteile des Träumers selbst. So können Personen im Traum bestimmte Wesenszüge des Träumers verkörpern oder Gegenstände weisen aufgrund ihrer assoziativen Verknüpfung auf Eigenschaften in der Persönlichkeit des Träumers hin.

Betrachtet man Filme oder Mythen aus tiefenpsychologischer Sicht, kann sowohl eine Deutung auf der Objekt- als auch auf der Subjektstufe hilfreich sein. Beispielsweise wird Odysseus auf seiner Reise von zwölf Männern begleitet, die einer nach dem anderen im Verlauf der Odyssee ihr Leben lassen. Auf objektstufiger Ebene sind sie schlicht als die Begleiter des Odysseus zu verstehen, die ihm auf seiner Reise helfen oder ihn behindern. Auf subjektstufiger Ebene entsprechen sie einzelnen Persönlichkeitsanteilen seiner selbst. Wann immer ein Begleiter sein Leben lässt, bedeutet dies für Odysseus, einen Wesenszug in sich erkannt und integriert zu haben, wodurch die Energie der einzelnen Begleiter in sein Selbst eingeht und Schritt für Schritt zur Synthese einzelner Anteile führt.

Psychologische Typen

Ein weiterer Grundpfeiler der Analytischen Psychologie ist eine Typologie von Einstellungs- und Wahrnehmungsfunktionen des Menschen, durch welche das Funktionieren seiner Psyche und damit der Weg seiner Entwicklung wesentlich bestimmt werden.

Zunächst unterscheidet Jung zwei Einstellungstypen, den Intravertierten und den Extravertierten. Sie beschreiben den Reaktionshabitus eines Menschen in Bezug auf Objekte der inneren und äußeren Welt. 6 Während der Extravertierte sich in seinem Denken und Handeln vornehmlich an äußeren Gegebenheiten, am Objekt ausrichtet und sich dabei vor allem an kollektiv-gültigen Normen orientiert, ist für den Intravertierten eher das eigene Subjekt Ausgangspunkt der Orientierung, sodass sein Verhalten eher durch subjektive Vorgänge bestimmt wird. Der jeweils entgegengesetzte Einstellungstypus prägt das Unbewusste, sodass im Verlauf der Individuation die jeweils andere Einstellung an Bedeutung gewinnt. Unzweifelhaft hat ein vornehmlich extravertiert ausgerichteter Mensch Vorteile in der ersten Lebenshälfte, da ihm die Auseinandersetzung mit der Außenwelt leichter fällt. In der zweiten Lebenshälfte hingegen profitiert der Intravertierte von seiner introspektiven Neigung. Dennoch bleibt beiden Typen die Auseinandersetzung mit der komplementären Einstellung nicht erspart.

Weiterhin unterscheidet Jung vier Bewusstseinsfunktionen, die dem Menschen die Orientierung und Wahrnehmung ermöglichen. Diese sind Denken und Fühlen, Intuieren und Empfinden, wobei jeweils das erste und das letzte Paar in kompensatorischer Beziehung zueinander stehen. Eine der vier Funktionen ist bei jedem Menschen als Hauptorientierungsfunktion ausgeprägt und bestimmt die Art und Weise, seine Umwelt wahrzunehmen. Eine zweite und dritte Funktion sind jeweils rudimentär ausgeprägt, d.h. stehen dem Individuum zumindest in Ansätzen zur Verfügung. Die vierte Funktion ist in der Regel verschüttet unter den Einflüssen der Erziehung und der Überbetonung des Bewusstseins bis in die zweite Lebenshälfte hinein. Auch diese vierte Funktion aus dem Unbewussten zu heben und nutzbar zu machen ist ein Schritt, der sich im Laufe der Individuation vollzieht.

  1. Vgl. Jung 1960, S. 527 zitiert nach Jacobi 2003, S. 19
  2. Jung 1972, S. 188 zitiert nach ebd., S. 107 f
  3. Jung et. al. 1980, S. 67
  4. Vgl. Jung/Jaffé 2003, S. 190
  5. Jung et al. 1980, S. 20 f
  6. Vgl. Jacobi 2003, S. 28