Modelle der psychischen Entwicklung

Während C. G. Jung sich in seiner Forschung vor allem auf die zweite Lebenshälfte konzentrierte, nahm sich einer seiner bedeutendsten Schüler, Erich Neumann, der offen gebliebenen Fragen zur ersten Lebenshälfte an. Jung selbst stützte sich in Fragen der Ich-Entwicklung noch auf die Erkenntnisse Freuds, Neumann hingegen bereicherte die Analytische Psychologie um Erkenntnisse zur Ich-Entwicklung des Menschen, die in ihrer Komplexität den Ausführungen Jungs zur Entwicklung des Selbst in nichts nachstehen. In seiner Ursprungsgeschichte des Bewusstseins 1 zeichnet Neumann die Entwicklung des menschlichen Verstandes auf mehreren Ebenen nach und belegt anhand ausführlicher Beispiele aus der Mythologie, dass die phylogenetische und die ontogenetische Herausbildung des menschlichen Bewusstseins in denselben Stadien verläuft:

»Es ist zu zeigen, daß und wie eine Reihe von Archetypen einen wesentlichen Bestandteil der Mythologie bilden, gesetzmäßig zusammenhängen und im Nacheinander ihrer Stadien die Entwicklung des Bewusstseins bedingen. In der ontogenetischen Entwicklung hat das Ichbewußtsein des Einzelnen die gleichen archetypischen Stadien zu durchschreiten, welche innerhalb der Menschheit die Entwicklung des Bewußtseins bestimmt haben. Der Einzelne hat in seinem Leben die Spur nachzugehen, welche die Menschheit vor ihm gegangen ist, und deren Niederschlag in der archetypischen Bildreihe der Mythologie wir darstellen wollen.«  2

Womit Neumann die Analytische Psychologie wesentlich bereichert hat, ist sein Ansatzpunkt der Urfrühe, aus der alle Entwicklung erwächst. Was in der Mythologie ein fester Bestandteil aller Schöpfungsmythen ist, wird damit auch in die menschliche Entwicklung übertragen. Aus dieser Urfrühe heraus entspringt der Ich-Keim des Bewusstseins und gelangt über einen archetypisch motivierten Differenzierungsprozess bis zur vollständigen Erstarkung des Ich.

Neumanns Verdienst liegt zweifelsfrei in der Beschreibung der ersten Lebenshälfte. Dennoch hat er auch den weiteren Entwicklungsweg mitgedacht und Jungs Ausführungen um wertvolle Erkenntnisse erweitert bzw. Undeutlichkeiten präzisiert. Die Erkenntnisse Neumanns und Jungs werden daher im zweiten Teil dieser Arbeit ergänzend herangezogen werden. Wie sich die Entwicklung der zweiten Lebenshälfte konkret gestaltet, ist trotz zahlreicher Erweiterungen der Analytischen Psychologie während der vergangenen Jahrzehnte nach wie vor von Jung am ausführlichsten beschrieben worden. Sein Archetypen-Modell bildet daher eine wesentliche Grundlage der folgenden Ausführungen.

  1. Erich Neumann (1980): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins. München.
  2. Neumann 1980, S. 7