Archetypische Aspekte der mythischen Reise

»Wir halten die Natur für ein freundliches Wesen, auch unsere eigene. Wir bringen es kaum übers Herz, einem Huhn den Kopf abzuhacken und es zu rupfen. Aber wir verspeisen es gerne, möglichst an einer raffinierten Sauce … Wir sind doch zivilisiert und kultiviert, sanft und sensibel. Warum zum Kuckuck wünschen sich denn unsere wohlerzogenen Kinder Monsterfiguren zum Geburtstag? … Das Schreckliche, dem wir von vorne nicht zu begegnen wagen, fällt uns von hinten wieder an. Als ob das real Schreckliche nicht genügen würde, um unsere geliebten Vorstellungen einer immer heiler werdenden Welt zunichte werden zu lassen, verfallen wir genüsslich dem imaginär Schrecklichen. Immer mehr Menschen können sich nicht satt sehen an den Bildern, in denen gemordet, zerstückelt und vergewaltigt, Blut verspritzt oder neo-dämonisch agiert wird.« 1

Die seltsame Faszination für all jene Erscheinungen, die unserem zivilisierten Verstand zuwiderlaufen, finden wir auch in der Begeisterung für Filme wieder, welche nicht selten das veranschaulichen, was wir im realen Leben auf das Schlimmste verabscheuen. Diese Faszination einzig mit der Gewissheit zu erklären, dass am Ende eines jeden Films das Gute über das Böse siegen wird, ist nur wenig erschöpfend. Denn in kaum einer Heldengeschichte bleiben die Qualitäten von Gut und Böse eindeutig. Vielmehr müssen wir uns am Ende eingestehen, dass in der antagonistischen, vernichtenden Kraft für den Helden etwas verborgen lag, was eine pauschale Bewertung als etwas ausschließlich Böses nicht mehr zulässt. Selbst der durchweg bestialische Buffalo Bill in Das Schweigen der Lämmer 2 erhält am Ende eine gebrochene Kontur, die uns bei aller Ablehnung auch ein Fünkchen Mitleid für sein gestörtes Wesen empfinden lässt. Natürlich würde dieses unbewusst empfundene Urteil wohl bei den wenigsten Zuschauern einer moralisch einwandfreien Bewertung des Films standhalten. Doch das weitaus komplexere Spiel zwischen protagonistischen und antagonistischen Kräften scheint geradezu von dieser Diskrepanz zwischen unserem bewusst gefällten moralischen Urteil und der unbewusst wahrgenommenen Auflösung klarer Grenzen von Gut und Böse zu leben.

Wie wir bereits bei Campbell erfahren haben, ist das Motiv der zu überwindenden gegensätzlichen Kräfte ein Kernthema aller Mythen, das sich in seinen Emanationen nicht auf die bloße Personifikation von Protagonist und Antagonist reduzieren lässt. Auch Jung verweist auf die innerliche Gegensatzspannung, die uns im Leben zu schaffen macht und legt den Prozess offen, wie diese Spannung im Verlauf des Lebens eine Auflösung erfährt. Das grundlegendste Gegensatzpaar ist dabei zunächst das Bewusstsein und das Unbewusste, wobei eine Unterscheidung in persönliches und kollektives Unbewusstes zunächst nebensächlich ist. Wie sich die Qualitäten dieser beiden Bewusstseinsebenen in mythischen Erzählungen manifestieren, lässt sich im Kontext des gesamten geistigen Entwicklungsprozesses umfassender darstellen. Der allgemeine Konsens der Analytischen Psychologie über den Individuationsweg des Menschen lässt er sich in folgendem Schema zusammenfassen:

Abb. 3 – Stadien der psychischen Entwicklung

Abb. 3 – Stadien der psychischen Entwicklung

Wenngleich wir es hier mit einem Kontinuum zu tun haben, dessen Fixpunkte lediglich in der Theorie abzugrenzen sind, lassen sich dennoch mehrere Bewusstseinsstadien ausmachen, deren Qualitäten wir in symbolisierter Gestalt in Filmen immer wiederfinden können.

  1. Kunz 1990, S. 12
  2. Regie: Jonathan Demme (1991)