Die Heldenreisen der Zentroversion

Den Individuationsprozess nur im Hinblick auf sein finales Ziel der Selbstwerdung hin zu betrachten, verleitet dazu, den kollektiven und individuellen Wert einzelner Entwicklungsstadien zu unterschätzen. So würde auch die psychologische Dimension der mythischen Reise auf eine einzige Lebensphase reduziert werden, was impliziert, dass jede Entwicklung vor der zweiten Lebenshälfte geradezu spielerisch verläuft. Zweifellos ist das Wissen um den inneren Kampf im höheren Lebensalter jener geheimnisvolle Mythos, von dem Mystik und spirituelle Systeme in symbolischer Form berichten. Da das mythische Grundschema der Heldenreise jedoch ein natürliches, prozessuales Schema ist, das jedem Wandlungsprozess zugrunde liegt, dürfen auch einzelne Entwicklungsabschnitte aus früheren Lebensphasen nicht außer Acht gelassen werden. Eine hilfreiche Größe, um den Individuationsprozess zu strukturieren, bietet Neumanns Konzept der Zentroversion. 1 Anders als Jungs zentrale Orientierung auf die Selbstwerdung ist der Begriff der Zentroversion mit jenem finalen Entwicklungsabschnitt nicht gleichzusetzen. Vielmehr handelt es sich bei der Zentroversion um die der psychischen Entwicklung innewohnende Bestrebung, eine Ganzheit (wieder) herzustellen, wobei jede Entwicklungsphase auf diesem Wege bedeutsam ist, da sie das psychische Zentrum mehrmals umdefiniert. Drei markante Stadien der Zentroversion lassen sich dabei vor der Selbst-Zentrierung ausmachen, die jeweils für den Beginn einer mythischen Reise stehen können.

Erste Zentrierung: Geburt aus dem Pleroma

In der frühen Kindheit kommt es zur ersten Zentrierung im Bewusstsein, indem sich das Kind selbst als Ich erkennt, dass sich von seiner Umwelt unterscheidet. Das Ich wird damit zum Repräsentationsorgan der Ganzheit. Die Differenzierung des Ichs aus der Ureinheit bedeutet den Beginn einer ersten Heldenreise, wobei der männliche und der weibliche Drache in Gestalt der Eltern insofern überwunden werden müssen, als sich das Kind schließlich als eigenständiges Individuum in einem Kollektiv orientieren kann. Die erste Heldenreise zieht gänzlich andere Verluste und Gewinne nach sich als dies auf der Heldenreise anderer Lebensstadien der Fall ist.

»Gerade das, was das Kind mit dem genialen, dem schöpferischen und dem primitiven Menschen gemeinsam hat, und was den Zauber und Charme seines Daseins bildet, muss geopfert werden. Jede Erziehung, nicht nur die unserer Kultur, ist bemüht, diese Genie- und Paradieszüge des Urmenschen im Kinde auszutreiben und es durch Differenzierung und durch das Aufgeben der Ganzheit zur Kollektiv-Verwendbarkeit zu zwingen.« 2

Eingebüßt werden die kindlich-unbewusste Schöpfungskraft und eine Gewissens- und Geschlechtslosigkeit zugunsten einer Etablierung im Kollektiv als eigenständiges Individuum. All dies führt zu einer interpersonalen Spannung, die davon zeugt, dass die psychische Ganzheit verloren gegangen ist, wobei die Ausbildung eines erkenntnisfähigen Geistes gewonnen wurde. Neumann bezeichnet den Kultivierungsprozess als einen Prozess der Entwurzelung, denn die Bindung an die eigenen Instinkte wird zugunsten einer Bindung an das Kollektiv aufgehoben. Diese Loslösung ist allerdings notwendig. Wird sie nicht vollzogen, kommt es zu Entwicklungsstörungen und Erkrankungen. 3 »Die Stärkung der Lebenstauglichkeit auf Kosten der Lebenstiefe ist das Kennzeichen dieses Prozesses« der Ich-Ausbildung. 4

Zweite Zentrierung: Geburt in das Kollektiv

In der Pubertät erfährt sich das Ich als repräsentativ für die Ganzheit des Kollektivs und es ist in die Pflicht genommen, eine Dialektik äußerlich zwischen sich und der Umwelt auszutragen. Mit Beginn der Pubertät verlagert sich die Projektion archetypischer Inhalte von den Eltern auf andere Personen und es beginnt für das Individuum eine mythische Reise, deren Ziel es ist, sich von den elterlichen Normen zu lösen und eine eigenständig determiEnierte Lebensweise zu entwickeln. Der Drachenkampf findet hier vor allem in der Eroberung eines Partners und in der Ausbildung eigener Wertvorstellungen statt, was die end-gültige Loslösung von den Eltern-Imagines erfordert. Eine markante Erscheinung der Pubertätsphase ist ein erstes stärkeres Aktivwerden des kollektiven Unbewussten, das diese Heldenreise maßgeblich steuert. Das Seelenbild wird dabei auf mögliche Geschlechtspartner projiziert, was sich in der Pubertät aufgrund der erwachenden Sexualität stärker als in jeder anderen Lebensphase bemerkbar macht. Der Schatten sorgt für das verstärkte Aufbegehren gegen elterliche und gesellschaftliche Normen und ein in der Pubertät verstärkt zu beobachtendes Interesse für geistig-philosophische Themen deutet auf eine starke Aktivität der Mana-Persönlichkeiten hin.

»Die Pubertätseinweihung ist Ausdruck einer Belebung des kollektiven Unbewussten, die aber jetzt gebunden ist an das Kollektiv, indem allgemein der archetypische Kulturkanon in diesen Weihen als die Geist-Welt des Kollektivs von den alten Männern, die den Himmel vertreten, tradiert wird. Dabei aber wird der Einzelne … zu einer neuen Erfahrung seiner Zentralität innerhalb des Kollektivs geführt. Eingeweiht sein und Erwachsensein heißt jetzt verantwortlich das Kollektiv zu repräsentieren, denn die überpersönliche Bedeutung des Ich und des Einzelnen ist von nun an eingebaut in die Kultur des Kollektivs und ihren Kanon.« 5

Die starke Belebung der Archetypen in der Pubertät führt zu einem verstärkten nach außen Wenden, was davon zeugt, dass die Wegentwicklung vom Unbewussten in der Spezies Mensch naturgemäß angelegt ist. 6 Das Ziel dieser Reise ist dann erreicht, wenn die eigenen Ideale und Bedürfnisse in ein kollektiv verträgliches Maß gebracht sind, sodass sie dem nunmehr erwachsenen Individuum zur Verfügung stehen und dennoch eine gesellschaftliche Integration nicht verhindern.

Dritte Zentrierung: Geburt ins geistige Pleroma

Ab dem Klimakterium erfährt das Ich das Selbst als das eigentliche Zentrum und erlebt sich als repräsentativ für die Totalpsyche. Die Dialektik wird nun innerlich zwischen Ich und kollektivem Unbewusstem ausgetragen. Die Differenzen der ersten Lebenshälfte werden nun wieder abgebaut, jedoch nicht durch Regression, sondern durch Integration. Der Prozess der Selbst-Bewusstwerdung ist ein neuer Drachenkampf und gipfelt im höchsten Bewusstseinsstadium der Selbstwerdung, das mit einer völlig neuen Bewusstseinsqualität verbunden ist. Archetypen, die bis dahin mit konkreten Imagines belegt waren, nehmen nun wieder primitive Gestalt an und wandeln sich aus ihrer Eindeutigkeit in eine paradoxe Vieldeutigkeit, die ihnen naturgemäß zueigen ist. Der Drachenkampf findet nun im Innern statt, wie oben ausführlich erwähnt, in der Auseinandersetzung mit den kollektiv unerwünschten Persönlichkeitsinhalten des Schatten und in der Wiederbelebung der psychischen Doppelgeschlechtlichkeit durch die Integration der Seelenbild-Inhalte.

Ausdruck findet diese Integration bei erfolgreichem Fortschreiten in dem, was Jung als das »vereinigende Symbol« bezeichnet hat, einem Produkt der transzendenten Funktion der Psyche. Während alle natürlichen Symbole, die im Verlauf des Lebens erscheinen, Ausdruck sind von ausschließlich unbewussten Inhalten, die sich dem Ich lediglich darbieten, bezieht das vereinigende Symbol das Ich in seine Botschaft ein, was seine maximale Festigkeit voraussetzt. Das vereinigende Symbol ist die direkte Manifestation der Zentroversion, die sich nun in der höchsten Form der Synthese äußert. Die bis dahin getrennten Systeme Bewusstsein und Unbewusstes werden nun durch neue, bis dahin noch unwirksame psychische Elemente verbunden, d.h. sie werden »transzendiert«. 7 In der Wirksamkeit der transzendenten Funktion liegt der besondere Wert der Selbstwerdung verborgen, denn sie entspricht der schöpferischen Komponente des Unbewussten. Ihre überlegene Kraft besteht darin, in Situationen eines für das Bewusstsein unlösbaren Konflikts selbigem einen neuen Weg oder ein konstruktives Bild aufzuzeigen.

Abb. 9 - Die transzendente Funktion findet sich in der Mythologie z.B. in Hermes, der als Götterbote zwischen zwei Welten vermittelt

Abb. 8 - Die transzendente Funktion findet sich in der Mythologie z.B. in Hermes, der als Götterbote zwischen zwei Welten vermittelt

Der letzte Abschnitt der Individuation, der durch Erscheinen des vereinigenden Symbols erst eingeläutet wird, ist im Gegensatz zu allen vorherigen Stufen nicht mehr archetypisch, sondern vor allem individuell geprägt. Zwar handelt es sich um eine archetypische Entwicklungsstufe an sich, in der auch archetypisches Material verarbeitet wird, jedoch kommt nun das eigentliche  Ziel der Individuation zum Tragen: Das vollständige Entfalten eines höchst individuellen Wesens, das eingebettet ist in seine kollektive Umgebung. Durch die Selbstwerdung erfährt der Mensch seine eigentliche Bedeutung. Er erkennt sich als Anfang, Mitte und Ende, was mit der Erkenntnis der Unsterblichkeitswerdung (des Selbst) einhergeht. Das Mandala und die vollkommene Blüte symbolisieren diesen Zustand. Im Unterschied zum tierischen, aber vollkommenen Uroboros (in dem der Ich-Keim noch schlummerte), ist im Mandala die tierische Natur überwunden und das Selbst leuchtet in seiner Mitte als das Zentrum höherer Erkenntnis, dem göttlichen Funken. Die Überwindung der Gegensatzspannung bedeutet also nicht nur ihre quantitative Abnahme, sondern eine qualitative Verwandlung. Durch die Verbindung des Ich mit dem Selbst werden die Inhalte der Welt und die des Unbewussten (d.h. innen und außen) bewältigt.

Abb. 10 – Das Mandala. Als Symbol für die vollständig zentrierte Psyche enthält das Mandala die Quadratur des Kreises, d.h. die weltliche Ganzheit ist im göttlichen Ureinen erreicht

Abb. 9 – Das Mandala. Als Symbol für die vollständig zentrierte Psyche enthält das Mandala die Quadratur des Kreises, d.h. die weltliche Ganzheit ist im göttlichen Ureinen erreicht

Das, was der Mensch am Lebensende an Entwicklung vollzieht, ist auf phylogenetischer Ebene noch zu leisten.

»Denn die Menschheit im Ganzen hat wie das Individuum im einzelnen die eine gleiche Aufgabe, nämlich die, sich zu verwirklichen als eine Einheit. … Erst wenn die Differenzierung der Menschheit in Rassen, Völker, Stämme und Gruppen durch einen Integrationsprozess in einer nenen Synthese überhöht wird, ist auch die Gefahr des Urdrachen, die Gefahr des überschwemmenden Unbewussten, besiegt. Eine zukünftige Menschheit wird dann dieselbe Mitte als Menschheitskern realisieren, die heute die einzelne Persönlichkeit als ihre Mitte erfährt und deren Erscheinen die Urgefahr des Uroborosdrachens überwindet.«  8

  1. Vgl. Neumann 1980, S. 210 ff
  2. Neumann 1980, S. 318
  3. Vgl. ebd., S. 322
  4. Vgl. ebd., S. 319
  5. Ebd., S. 325
  6. Vgl.  ebd., S. 325
  7. Vgl. ebd., S. 328
  8. Ebd., S. 331 f