Zur psychologischen Bedeutung der »schwer erreichbaren Kostbarkeit«

Ein elementarer Bestandteil der mythischen Reise ist die »schwer erreichbare Kostbarkeit«, das »hilfreiche Gut« oder das »geheime Elixier«, das der Held in der Unterwelt erlangen muss. Sowohl Vogler als auch Campbell erwähnen diese Kostbarkeit, thematisieren allerdings keine psychologische Besonderheit, die ihr neben dem eigentlichen Ziel der Reise innewohnen würde. Nach Vogler hat das Elixier die Aufgabe, bei der Rückkehr des Helden der Gemeinschaft Gutes angedeihen zu lassen. »Das Elixier beweist, dass der Held tatsächlich in der anderen Welt gewesen ist, es dient den anderen als gutes Beispiel, und es zeigt, dass selbst der Tod überwunden werden kann.« 1

Psychologisch übersetzt entspricht das Elixier dem Ausgleich seines Defizits, womit er nun durch eine weiterentwickelte Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft verantwortungsvoller handeln kann. Dementsprechend wäre das Elixier ein konkretisiertes Symbol für den summierten Lerneffekt, der sich aus der Aufgabe des Helden ergibt. Banzhaf hingegen gibt einen interessanten Hinweis darauf, wie das Elixier im tiefenpsycho-logischen Sinne außerdem verstanden werden kann. Er beschreibt »das schwer erreichbare Gut« als Symbol für die vierte Bewusstseinsfunktion, die bis in die zweite Lebenshälfte hinein unentwickelt im Unbewussten liegt. 2

Abb. 7 – Die Bewusstseinsfunktionen. Darstellung einer möglichen Ausprägung der Bewusstseinsfunktionen vor Integration der vierten Funktion (hier die Intuition)

Abb. 7 – Die Bewusstseinsfunktionen. Darstellung einer möglichen Ausprägung der Bewusstseinsfunktionen vor Integration der vierten Funktion (hier die Intuition)

Unter diesem Aspekt muss jedoch einbezogen werden, dass die Hebung der vierten Funktion einhergeht mit der Integration des Seelenbildes. Solange die unentwickelte Bewusstseinsfunktion im Unbewussten liegt, gehört sie zum Eigenschaftsspektrum des Seelenbildes.

Ein wesentlicher Personlichkeitszugewinn liegt bei der Integration der Seelenbild-Inhalte für das Individuum vor allem in dem Potential der vierten Bewusstseinsfunktion begründet. Somit ist die Integration der vierten Bewusstseinsfunktion von der Integration des Seelenbildes kaum noch zu trennen. Der Zusammenhang zwischen dem Motiv des Elixiers bzw. des schwer erreichbaren Guts ist allerdings insofern wieder beachtenswert, als die entführte Prinzessin (Anima) in vielen Mythen und Märchen der zu befreienden Kostbarkeit entspricht.

Interessanterweise hat Jung selbst die Beziehung zwischen Seelenbild und schwer erreichbarer Kostbarkeit nicht explizit hergestellt. Stattdessen kommen seine Überlegungen dazu jener von Vogler nahe, indem er die Kostbarkeit per se als ein Symbol für die nötige Bereitschaft des Menschen auffasst, sich auf seinen seelischen Entwicklungsprozess einzulassen. Dabei handelt es sich laut Jung nicht um eine Bereitschaft, die sich durch Willenskraft erzeugen lässt, sondern sie erfordert vom Individuum die Fähigkeit zur Hingebung, die niemals allein durch die Orientierung an einem philosophischen oder religiösen Dogma erlangt werden kann:

»Es gibt kein ›sollte‹ oder ›müsste‹, denn gerade in der Willensanstrengung liegt unvermeidlich eine solche Betonung des Ich will, dass das Gegenteil der Hingabe erreicht wird. Die Titanen haben es nicht vermocht, den Olymp zu stürmen, noch weniger ein Christ den Himmel. So bedeuten gerade die allerheilsamsten und seelisch nötigsten Erfahrungen eine ›schwer erreichbare Kostbarkeit‹, die zu erlangen ein Außergewöhnliches vom gewöhnlichen Menschen verlangt.« 3

  1. Vogler 1997, S. 349
  2. Vgl. Banzhaf 1997, S. 117
  3. Jung 1985a, S. 55