Lebenswelten als Symbole für Bewusstseinszustände

Zustand der Urfrühe: Das verlorene Paradies

Die Entwicklung des Ich beginnt nach Neumann mit der Ablösung aus der Ureinheit – eine Trennung, die für den Menschen fortan eine Sehnsucht nach der verlorenen Vollständigkeit zur Folge hat. Das Pleroma, das Erich Neumann mit dem ägyptischen Symbol des »Uroboros« umschreibt, beschreibt den Zustand völliger Unbewusstheit.

Abb. 4 – Der Uroboros. In der ägyptischen Mythologie bezeichnet der Uroboros den Ur-Drachen, der sich selbst in den Schwanz beißt. Er ist das Symbol für die Vollkommenheit des Weltgrunds, für den gegensatzlosen Charakter des Paradieses, und bringt  durch die Verschmelzung von Anfang und Ende das Wesen des kosmogonischen Zyklus zum Ausdruck.

Abb. 4 – Der Uroboros. In der ägyptischen Mythologie bezeichnet der Uroboros den Ur-Drachen, der sich selbst in den Schwanz beißt. Er ist das Symbol für die Vollkommenheit des Weltgrunds, für den gegensatzlosen Charakter des Paradieses, und bringt durch die Verschmelzung von Anfang und Ende das Wesen des kosmogonischen Zyklus zum Ausdruck.

Phylogenetisch entspricht dies jenem Stadium, in dem der Mensch sich noch nicht als animal rationale aus seiner Umgebung herausdifferenziert hat und jeder Funke Bewusstheit noch schlummert in einem Zustand der absoluten Instinkthaftigkeit im Gleichklang mit der Natur. Da dieser Zustand den Menschen als solchen vom Tier noch nicht unterscheidet, liegt er vor jener Ich-Existenz und entzieht sich somit einer historischen Beschreibbarkeit. Nach Neumann herrscht in dieser unbewussten Entwicklungsphase der Menschheit das Gesetz der unbewussten Identität, der participation mystique. 1 Kosmologische Mythen berichten von diesem Zustand der Urfrühe, der nach der Schöpfung in den Zustand des aufkeimenden Bewusstseins übergeht.

Die Urfrühe entspricht damit dem Symbol des Paradieses, in dem noch jedes Leben in absoluter Gegensatzlosigkeit in einer Einheit verbunden ist. Das Ich als Bewusstseinszentrum liegt in diesem Zustand lediglich als hypothetische Anlage in der Einheit des Unbewussten verborgen. 2 Ontogenetisch finden wir die uroborische Einheit in der vorgeburtlichen Phase verwirklicht. Was für die Schöpfung der Menschheit der Schoß der Großen Weltmutter als archetypische Personifizierung der Natur ist, ist für das ungeborene Kind die leibliche Mutter, in deren Schoß es mit ihr noch untrennbar verbunden und noch zu keinerlei Eigenerfahrung fähig ist. Nach Neumann ist dieses Symbol der Urfrühe in der menschlichen Seele als transpersonales Faktum angelegt und kann daher als solches »er-innert« werden. 3 Aus jener archetypischen Anlage speist sich das fortwährende Bedürfnis des bewussten Menschen nach Harmonie und Konfliktlosigkeit.

In archaischen wie in zeitgenössischen Heldengeschichten finden wir den Zustand der Urfrühe wieder. Der Ausgangspunkt des Helden, seine gewohnte Welt, entspricht jenem konfliktlosen Zustand, der ihn auf seiner Reise immer mit einer Sehnsucht erfüllen wird. Doch ebenso wie die Vollkommenheit im Mutterleib nur von bestimmter Dauer ist, ist auch die gewohnte Welt des Helden nur ein zeitlich begrenztes Paradies. Wie im ungeborenen Leben der schlummernde Ich-Keim nach Entfaltung drängt und den Trennungsprozess der Geburt unabwendbar macht, wird auch der Held seine uroborische Welt verlassen müssen, um ein noch unbewusstes Defizit in seiner Persönlichkeit mit Erfahrung aufzufüllen.

  1. Vgl. Neumann 1980, S. 214; Ausdruck findet dieses Gesetz im Totemismus archaischer Kulturen, in dem Teile der eigenen Seele in Tieren und Pflanzen wahrgenommen werden.
  2. Vgl. ebd., S. 18
  3. Vgl. ebd., S. 22