Der Abstieg in die Unterwelt

Das Motiv der Unterwelt ist in seiner symbolischen Kraft so vielschichtig und gleichsam essentiell wie wohl kein anderes mythisches Element. Der Abstieg in die Unterwelt – die Begegnung mit dem eigenen Unbewussten – ist das Herz jeder Geschichte. Wie im ersten Teil der Arbeit bereits erwähnt, entspricht der Abstieg in die Unterwelt aus mythischer Sicht immer einem Absterben des Helden-Ich. Der Held muss seine Identität zurücklassen, um sich in der Unterwelt durch neue Erfahrungen neu zu definieren.

Aus tiefenpsychologischer Sicht entspricht der Tot des Helden dem symbolischen Sterben des Ich zugunsten der Inhalte des Unbewussten. Das Ich muss hinter seiner eigenen Bedeutung zurücktreten, um die Erfahrung der überpersönlichen Wiedergeburt machen zu können. Das, was Campbell als das »Ungeschaffene und Unvergängliche« 1 bezeichnet, entspricht jenen kollektiven Inhalten des Unbewussten, deren Zeitlosigkeit das Ich in seinem Lernprozess begreifen lernen wird.

Das Sterben des Helden beim Übertreten der Schwelle in die andere Welt wird in Der Mann ohne Vergangenheit wörtlich genommen, denn bevor M seine neue Lebenswelt erreicht, markiert ein symbolisch aufgeladenes Motiv seinen Übertritt in die Unterwelt: Nach der Prügelei kann sich M noch ins Bahnhofsgebäude schleppen, wo er zusammenbricht. Als man ihn ins Krankenhaus bringt und er vom Arzt untersucht wird, versagen plötzlich seine Herztöne und er wird vom Arzt für tot erklärt. Als er kurz darauf allein zurückgelassen wird, richtet sich der vermeintlich Tote mit einem Ruck wieder auf und betrachtet sein vollkommen verbundenes Gesicht in einem Spiegel. Sein plötzliches Aufleben kommt einer zweiten Geburt gleich, in der er buchstäblich sein Ich verloren hat.

Namenlos, gesichtslos und ohne den Hauch einer Vergangenheit beginnt nun Ms Initiation. Als er aus dem Krankenhaus flieht und ohnmächtig am Ufer eines Hafenbeckens zusammenbricht, gelangt er in jene Welt, in der seine Wandlung stattfinden wird. Zwei Kinder finden M und bringen ihn zu ihren Eltern, den Nieminens. Fortan muss sich M auf einem Containerplatz am Hafen behaupten und die Regeln des Lebens an der Grenze der Gesellschaft neu erlernen.

  1. Campbell 1999, S. 94