Der Heldentot

Das, was Vogler als »die äußerste Prüfung« bezeichnet, ist jene Station, die eine Begegnung des Helden mit seiner größten Angst bereithält. In aller Regel handelt es sich dabei um die Konfrontation mit dem Tod. Entweder der Held sieht sein Leben plötzlich unmittelbar bedroht, jemand anderem wird das Leben genommen oder der Held muss selbst zu Mörder werden – in jedem Fall begegnet der Held hier nun der äußersten Lebensgrenze und ist aufgefordert, seine größte Angst zu überwinden. Im mythischen Sinne handelt es sich hier um das Motiv des Heldentodes, das nun nicht mehr – wie im Absterben des Ich beim Abstieg in die Unterwelt – symbolischer Natur ist. Die Erfahrung ist real und muss wörtlich genommen werden, denn ihr Ziel ist es, die Angst vor der eigenen Endlichkeit zu überwinden.

In Der Mann ohne Vergangenheit erleben wir dieses Motiv, dem ruhigen Tonfall des Films entsprechend, auf eine Weise, in der Tragik und Wandlung unter der Oberfläche der Sachlichkeit verborgen liegen. Als M und eine Bankangestellte nach einem Banküberfall im Tresorraum eingeschlossen werden, sehen beide ihr Ende nahen, denn Rettung ist nicht in Sicht. Doch M, der ohnehin nur noch wenig zu verlieren hat, gerät nicht in Panik, sondern blickt dem Tod mutig ins Auge. In seiner Gelassenheit zündet er sich eine letzte Zigarette an und bringt seine Begleiterin damit auf die rettende Idee, den Feuermelder auszulösen.

Ms Demut, sich dem unabwendbaren Schicksal zu fügen, ist ein archetypischer Erkenntnisschritt, der auf dem Individuationsweg zu gegebenem Zeitpunkt vollzogen werden muss, um die letzte Dominanz des Ich zu begraben. Das Todesmotiv gehört zur Struktur der menschlichen Psyche und die lebenserhaltende Angst vor dem Ableben ist ein natürlicher Instinkt von tierischer Natur. Wie alle Archetypen fordert auch die Gewissheit des Todes zu gegebenem Zeitpunkt die Auseinandersetzung des Individuums mit entsprechenden Traum-Motiven heraus. »Wer dem Tod ins Auge sieht, muss die alte Botschaft wieder lernen, dass der Tod ein Geheimnis ist, auf das wir uns in dem gleichen Geist der Unterwerfung und Demut vorbereiten müssen, wie wir einst gelernt haben, uns auf das Leben vorzubereiten.« 1 Erst wenn das Ich im Angesicht seiner größten Angst seine Endlichkeit erkennt und akzeptiert, kann das unsterbliche Selbst vollständig geboren werden, indem das zyklische Wesen der Natur erkannt und über das Schicksal des Einzelnen gestellt wird.

Die innerliche Auseinandersetzung und die Integration des Themas in das Leben ist ein fester Bestandteil der Übergangsriten jeglicher Völker. Von unserer jugendfanatischen Gegenwartskultur abgesehen, ist allen archaischen und traditionell geprägten Kulturen gemein, den Tod immer im Zusammenspiel mit einem Neuanfang zu betrachten. »Der Übergang von einem zum anderen Zustand ist buchstäblich gleich bedeutend mit dem Abstreifen des alten und dem Beginn des neuen Lebens.« 2 Doch nicht die Hoffnung auf eine körperliche Wiedergeburt ist es, was am Ende des Individuationswegs höhere Einsicht verschafft:

»Wo ein Weg zu körperlicher Unsterblichkeit gesucht wird, ist die traditionelle Lehre missverstanden worden. Dieser zufolge liegt das Grundproblem gerade darin, den Blick zu weiten, also die Behinderung des Sehens durch den Körper und die anhängende Person zu beseitigen. Dann und erst dann wird die Unsterblichkeit als gegenwärtige Tatsache erfahren.« 3

  1. Jung et. al. 1980, S. 148
  2. van Gennep 1999, S. 176
  3. Campbell 1999, S. 181