Der Mentor

Die Funktion des Mentors wurde im vorangegangenen Kapitel ausführlich erläutert. Die Gestalt des Mentors erscheint in Geschichten häufig relativ zu Beginn und »sie ist diejenige Etappe auf der Reise des Helden, in der dieser Ausrüstung, Wissen und Selbstvertrauen gewinnt, ohne die er seine Furcht nicht überwinden und sich nicht auf das Abenteuer einlassen könnte.« 1 Dass es sich beim Auftauchen des Mentors an jener Stelle nicht um einen dramaturgischen Kunstgriff handelt, lässt sich daran absehen, welche Bedeutung Mentoren im Verlaufe des menschlichen Lebens einnehmen. Vor allem in der Pubertät, welche wie erwähnt von starker archetypischer Aktivität geprägt ist, nehmen Mentoren in Gestalt von Vorbildern eine enorme Rolle ein.

Als Projektion eines Zielzustandes der eigenen Entwicklung dienen sie Jugendlichen dazu, sich in ihren eigenen Vorhaben und Ideen zu bestärken, sich Handlungsstrategien abzuschauen und sich von einer Person, die höher entwickelt ist als sie selbst, ein Beispiel geben zu lassen, dass die angestrebte Entwicklung per se möglich ist. Der Mechanismus, das eigene Entwicklungsziel auf die Umwelt zu projizieren und sich auf diesem Wege vom Selbst im Außen eine konkrete Hilfestellung zur Bewältigung des Entwicklungsweges zu holen, beschränkt sich nicht auf die Pubertät, sondern vollzieht sich auch in anderen Lebensphasen. In der Regel wird die Projektion mit zunehmendem Alter subtiler und wandelt sich schließlich in eine innerliche Stimme. Dennoch begleitet uns die Stimme des Mentors auf der gesamten Individuation. Im Film ist das Erscheinen des Mentors daher auch nicht auf diese explizit benennbare Stufe beschränkt. Wann immer der Held im Verlauf seiner Reise einen hilfreichen Impuls von außen bekommt, ist der Archetyp des Mentors als Verkörperung des Selbst aktiv. Auch Verbündete können in bestimmten Situationen die Rolle des Mentors einnehmen, selbst äußere Gegebenheiten, die dem Helden eine Eingebung vermitteln, können dies leisten.

Im Verlauf seiner Reise begegnen M mehrere Mentoren, die in der Regel durch die Gestalt seiner Nachbarn verkörpert sind. Die wichtigste Mentoren-Figur, die zu Beginn seiner Unterwelt-Erfahrung auftaucht, ist Kaisa, die gemeinsam mit ihrem Mann Nieminen M bei sich aufnimmt und gesund pflegt. Sie machen ihm Mut und führen ihn in die Lebenswelt des Containerplatzes ein, deren Regeln M nun erlernen muss. Eine der wichtigsten Lektionen, die M bei den beiden lernt, ist das Bewahren der eigenen Würde, was – wie sie M vorleben – auch unter schwierigsten und augenscheinlich entwürdigendsten Bedingungen möglich ist. Obwohl der größte Traum des Ehepaars Nieminen eine eigene Sozialwohnung ist und auch dieser in den nächsten Jahren kaum realisierbar scheint, haben sie ihr Leben im Griff. Nieminen geht einer geregelten, wenn auch schlecht bezahlten Arbeit nach und Kaisa führt mit wohl kalkulierendem Verstand das Familienregime – immer unter dem Vorsatz, das normale, würdevolle Leben so gut wie möglich zu gewährleisten. Beklagen tut sie sich dabei nicht, denn sie weiß, dass es nur durch harte Arbeit, gute Organisation und den Glauben an die eigene Persönlichkeit möglich ist, dem Elend zu entkommen. Ihre tiefe Überzeugung, dass dies möglich ist, gibt sie M mit auf dem Weg.

Unter dem Aspekt der Ich-Entwicklung haben Kaisa und Nieminen nicht nur die Funktion des Mentors, sondern sie fungieren als die Eltern des Helden. Tatsächlich ist ihr Tonfall manchmal äußerst pädagogisch und ihre Ratschläge und Hilfestellungen erziehen M dazu, sich um das Finden einer eigenen Identität zu bemühen. Interessanterweise kommen sowohl M selbst, als auch Kaisa und Nieminen nicht auf die Idee, M bei der Polizei zu melden, um seine Identität klären zu lassen. Dies mag in ihrer Weltsicht begründet liegen, die Behörden und autoritären Instanzen das Vertrauen entzieht. Kaisa und Nieminen sind es gewohnt, Dinge selbst zu erledigen und verlassen sich nicht auf Hilfe von außen. Die Überlegung, den einfachen Weg zu wählen, um Ms Identität zu klären, liegt ihnen dementsprechend fern. Auch M, der maßgeblich von der Erziehung der Nieminens beeinflusst ist und überdies auf nicht viel mehr zurückgreifen kann als auf sein menschliches Bedürfnis nach Stolz und Würde, scheint den Weg zur Polizei aus den gleichen Gründen nicht in Betracht zu ziehen.

  1. Vogler 1997, S. 193 f