Die Berufung

Die Berufung ist jener Moment, der dem Helden deutlich macht, dass er seine heile Welt verlassen muss. Dramaturgisch kommt sie dem Anstoß gleich. Ein äußeres oder ein inneres Ereignis zwingt den Helden, sich auf den Weg zu machen, um einen plötzlich bewusst gewordenen Mangel auszugleichen. Der augenscheinliche Mangel, der sich dem Helden darbietet, entspricht dabei bei weitem oft nicht dem, was die Berufung in ihrem gesamten Umfang einfordern wird und so steht der Held ihr oft unbeholfen, irritiert oder voller Widerstand gegenüber. »Ein Versehen, dem Anschein nach der läppische Zufall, offenbart eine ungeahnte Welt und verstrickt den Menschen in ein Kräftespiel, dem sein Verständnis nicht gewachsen ist.« 1 Was der Held in jenem Moment erlebt, ist ein archetypischer Impuls, der sich im menschlichen Leben häufig nicht einordnen lässt. Es ist der notwendige Beginn einer Entwicklung, der dann auftritt, wenn die unbewussten Verhältnisse für die Psyche nicht mehr tragbar sind und eine Lösung fordern.

»Der eigentliche Individuationsprozess – die bewusste Auseinandersetzung mit dem größeren inneren Menschen oder dem eigenen Seelenzentrum – beginnt meistens mit einer Verwundung oder einem Leidenszustand, der eine Art von Berufung darstellt, aber oft nicht als solche erkannt wird. Das Ich fühlt sich vielmehr in seinem Willen oder Begehren behindert, oder man projiziert das Hindernde nach außen« 2

So ist es wenig verwunderlich, dass sich sowohl der gewöhnliche Mensch als auch der filmische Held der Berufung widersetzt und mit Weigerung reagiert. Da die Berufung als Entwicklungsimpuls des Selbst jedoch überpersönlichen Charakter hat und es dem Bewusstsein schlicht unmöglich ist, diese Zusammenhänge zu überblicken, wird jede Weigerung eine Wiederkehr der Berufung nach sich ziehen. Dramaturgisch und gewiss auch im Leben geschieht dies in der Regel dadurch, dass das Berufungsereignis sich in seiner Intensität bis hin zur völligen Alternativlosigkeit steigert und so den Aufbruch zur Entwicklung geradezu erzwingt. Die Berufung steht zwar am Beginn auch jeder kleinen Heldenreise, im Hinblick auf das gesamte Leben kann sie jedoch als das verstanden werden, was Jung als Bestimmung bezeichnet.

»Was veranlasst schließlich einen, den eigenen Weg zu wählen und dadurch aus der unbewussten Identität mit der Masse wie aus einer Nebelschicht emporzusteigen? … Es ist das, was man Bestimmung nennt; ein irrationaler Faktor, der schicksalhaft zur Emanzipation von der Herde und ihren ausgetretenen Wegen drängt. … Wer Bestimmung hat, hört die Stimme des Innern, er ist bestimmt.« 3

Jede Berufung ist, wie jeder archetypische Entwicklungsschritt, durch das Selbst motiviert. Die Bestimmung ist jedoch insofern eine Besonderheit, als sich das Selbst in ihr verwirklichen will, im Sinne größter Einzigartigkeit, deren notwendiger Schritt die vollkommene innere Vereinzelung ist.

M erlebt eine Berufung, die von vornherein jede Weigerung verbietet. Unmittelbar nachdem er in Helsinki ankommt, wird er von einer Horde Schläger zusammengeschlagen und ausgeraubt. M ist nicht nur lebensbedrohlich verwundet, sondern verliert bei dem Übergriff sein Gedächtnis. Er ist orientierungslos, mittellos und namenlos. Dennoch treibt ihn ein starker Überlebenswille in sein Abenteuer, das darin besteht, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren und eine Persönlichkeit zu entwickeln.

  1. Campbell 1999, S. 59
  2. Jung et. al. 1980, S. 166
  3. Jung 1985d, S. 15 f