Die heile Welt

Wie im vorangegangenen Kapitel bereits erklärt wurde, entspricht die Stufe der heilen Welt, die am Beginn jeder Geschichte steht, jenem Zustand der Urfrühe, in der Konflikte noch nicht existent waren. Die Welt des Helden ist sein Pleroma, in dem er sich bewegt und das zu verlassen er nicht bestrebt ist. Entscheidend ist hierbei nicht, ob die heile Welt des Helden objektiv betrachtet wirklich konfliktlos und vollkommen ist. Entscheidend ist die subjektive Wahrnehmung des Helden, der sich freiwillig nicht in einen Konflikt-Zustand begeben würde. Ebenso wenig wie das ungeborene Kind im Zustand der Urfrühe um die Notwendigkeit der Geburt weiß oder der ältere Mensch um die Bestrebungen nach Verwirklichung durch das Selbst, ist es dem paradiesischen Zustand strukturell inhärent, dass dem Individuum die Notwendigkeit der Absonderung zunächst nicht bewusst ist. Sie generiert sich aus einem Mangel in der Persönlichkeit des Individuums, der nach Ausgleich und Entwicklung verlangt. Während der Ich-Keim sich beim Säugling auf seine Entfaltung vorbereitet und die Trennung aus dem uroborischen Zustand erst später dem aufkeimenden Bewusstsein nachvollziehbar wird, ist es einem Menschen in der Lebensmitte zunächst nicht bewusst, warum er sich aus der Ganzheit der Gemeinschaft vereinzeln muss. Das Nicht-Wissen um die Notwendigkeit der Trennung scheint ein wesentlicher Aspekt zu sein, um die latente Sehnsucht nach der paradiesischen Ganzheit zu erklären.

Campbell übergeht die Stufe der ungestörten Heldenwelt in seinem Schema gänzlich, denkt sie jedoch in der Stufe der Berufung mit. Vogler hingegen verweist auf die Wichtigkeit der »gewöhnlichen Welt« des Helden für das Gleichgewicht der Geschichte. 1 Dramaturgisch erachtet Vogler die Etablierung der gewöhnlichen Welt als notwendig, um den Zuschauer mit der Vorgeschichte des Helden vertraut zu machen, seinen charakterlichen Mangel vorzustellen und so zu verdeutlichen, warum eine innere Entwicklung des Helden notwendig ist. Zudem sei die gewöhnliche Welt laut Vogler der notwendige Gegenpol zur Reise durch die Unterwelt, der erst durch den entstehenden Kontrast die Gefahren und Risiken der Reise deutlich werden lässt. 2

Der Mann ohne Vergangenheit ist ein Beispiel dafür, wie die implizite Einführung der ursprünglichen Welt des Helden genügen kann, um den Konflikt des Helden zu etablieren. Wir erfahren kaum etwas über M, bevor er in sein Abenteuer hineingezogen wird. Wir sehen ihn, wie er aus dem Zug steigt, sehen seine Kleidung, sein Verhalten und seine gesamte Erscheinung und können erahnen, dass es sich um einen rechtschaffenden Bürger handelt. Doch selbst wenn die Etablierung der Vorgeschichte hier nur im Ansatz ausgeführt wird, wissen wir, dass es diese heile Welt gegeben haben muss. Obwohl auch M bald nichts mehr über seine Vorgeschichte weiß, ist er getrieben vom allgemein-menschlichen Bedürfnis nach Harmonie und Konfliktlosigkeit, was die Bedeutung seiner konkreten heimischen Welt relativiert. Es zeigt, dass das Bedürfnis nach Ausgleich der Gegensatzspannung zur Wiederherstellung von Harmonie ein strukturell angelegtes Bedürfnis des Menschen ist, das sich auch ohne die Sehnsucht nach einem konkreten Vergangenheitszustand motivierend äußert. Die Darstellung der konfliktlosen Heldenwelt ist somit zwar ein notwendiges dramaturgisches Mittel, um Kontraste zu generieren, jedoch ist das Grundbedürfnis des Menschen nach Gegensatzlosigkeit bereits eine Grundkonstante mythischen Erzählens, die als selbst erklärendes Moment die Einstellungs- und Erfahrungswelten des Helden für den Zuschauer nachvollziehbar macht.

  1. Vgl. Vogler 1997, S. 137 ff
  2. Vgl. ebd., S. 35 f