Die Psychologie der mythischen Reise am Beispiel 
von Aki Kaurismäkis »Der Mann ohne Vergangenheit«

Nun soll die gesamte mythische Reise an einer Filmanalyse unter Bezugnahme auf die erarbeiteten Ergebnisse noch einmal systematisiert werden. Es sei im Vorfeld erwähnt, dass es sich bei der mythischen Reise zwar um ein archetypisches Schema handelt, dennoch sind die einzelnen Stufen kein Dogma. Wie von Jung bereits deutlich gemacht wurde, handelt es sich bei Archetypen nicht um Strukturen, die von unserem Bewusstsein pauschal zu kategorisieren wären. Jede Kategorisierung ist immer nur als eine Hilfestellung zu verstehen, das Entwicklungskontinuum in eine fassbare Form zu bringen. Sowohl die Systematisierungen Jungs, Campbells als auch Voglers gehen zurück auf eine rein phänomenologische Beobachtung, deren Bewertung und Gewichtung der Subjektivität ihrer Beobachter zuzuschreiben ist. Die Systematik der im Folgenden vorgestellten Heldenreise ist ebenso einer subjektiven Betrachtung geschuldet, die sich an der Phänomenologie des Films, dramaturgischen Größen und den tiefenpsychologischen Erkenntnissen orientiert.

Der ausgewählte Film ist die finnische Produktion Der Mann ohne Vergangenheit von Aki Kaurismäki aus dem Jahre 2002. Kaurismäkis lyrische Sozialstudie über das finnische Leben am Rande der Gesellschaft ist ein Beispiel dafür, dass die mythische Strukturierung von Filmen nicht den Hollywood-Konventionen vorbehalten bleibt, sondern sich auch im europäischen Autorenkino der Gegenwart wiederfinden lässt.

Der Mann ohne Vergangenheit erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich – seiner Identität beraubt – der Herausforderung stellen muss, sich aus dem Nichts ein neues Leben aufzubauen. Dabei ist es für den Helden der Geschichte unerlässlich, in den Tiefen seiner Seele immer wieder nach einem Fünkchen Würde zu suchen, das ihn mit der nötigen Hoffnung versorgt, dem Nichtssein entkommen zu können. Ohne Namen, ohne Geld und ohne eine Vergangenheit muss er bei Null beginnen und sich ein Leben erschaffen, das nur in einem gesunden Maß von Gemeinschaftssinn und Selbstfürsorge funktionieren kann.

Die Geschichte in Kürze

Bei seiner Ankunft in Helsinki wird M 1 von einer Gruppe Schläger fast zu Tode geprügelt. Dabei verliert er nicht nur all sein Hab und Gut, sondern auch sein Gedächtnis. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht, findet sich M orientierungslos und schwer verletzt in einem Wohncontainer am Hafen wieder. Hier trifft er auf das Ehepaar Nieminen, das sich seiner erbarmt und ihn gesund pflegt. Als M wieder bei Kräften ist, bezieht er einen eigenen Container und wird bald Teil einer Gemeinschaft von Menschen, deren größte Hoffnung, eine Sozialwohnung zu bekommen, in unerreichbarer Ferne liegt. Obwohl das Leben auf dem Containerplatz hart genug ist, macht der herzlose Platzwart Anttila es den Bewohnern zusätzlich zur Hölle: Horrende Mieten und brutale, entwürdigende Übergriffe begleiten seine alltäglichen Rundgänge.

In dieser Tristesse ist Irma – eine Angestellte der Heilsarmee, die sich um die Menschen auf dem Containerplatz kümmert – Ms einziger Lichtstrahl. Doch Irma macht es ihm nicht leichter als nötig, denn in ihrer Schüchternheit hält sie M stets auf professioneller Distanz. Mit Einfühlung und einer gewissen Hartnäckigkeit kann er Irma schließlich doch für sich gewinnen. Er bekommt eine vorläufige Arbeit bei der Heilsarmee, die ihm zumindest die Miete sichert. Seine Suche nach einer festen Arbeit wird für M zu einem Alptraum. Ohne Personalien bekommt er weder einen Arbeitsvertrag noch ein Bankkonto. Als wäre dies nicht schon bitter genug, muss er sich von den Behörden auch noch regelmäßig erniedrigen lassen.

Als M beim Versuch, ein Konto zu eröffnen, Zeuge eines Banküberfalls wird, kann seine Identität plötzlich geklärt werden und M erfährt, dass er eine Ehefrau hat. Er verabschiedet sich vom Containerplatz und macht sich auf den Weg zu seiner Frau. Doch statt einer glücklichen Familie findet M eine zerüttete Ehe vor und seine Frau muss ihm das Drama ihrer gemeinsamen Ehe erklären: Aufgrund von Spielsucht hatte M seine Ehe nicht nur in den finanziellen Ruin getrieben, auch die Beziehung zu seiner Frau war darunter zerbrochen. Nach der Trennung machte er sich auf den Weg nach Helsinki, um neue Arbeit zu finden.

Die Versöhnung mit seiner Ehefrau hält M jedoch nicht in seiner alten Welt, zumal seine Gattin mittlerweile neu liiert ist. Er kehrt nach Helsinki zurück und begegnet ein zweites Mal den Schlägern, die ihn fast das Leben gekostet hätten. Doch bevor sie erneut auf M losgehen können, treibt sie die gesamte Nachbarschaft der Containerstadt in die Flucht. Anttila zeigt sich versöhnlich und nicht wenig beeindruckt von Ms Wandlung und auch Irma ist glücklich, M wieder in die Arme schließen zu können.

Der Mann ohne Vergangenheit ist ein Beispiel dafür, wie sich die Heldenreise im Hinblick auf unterschiedliche Lebensstadien lesen lässt. Der Protagonist M verliert zu Beginn des Films sein Gedächtnis und muss die Herausforderung meistern, sich als ein Niemand wieder in der Gesellschaft zu etablieren. Sein Leben wird durch den Anstoß zur Reise abrupt in zwei Teile geteilt: Das Leben vor dem Gedächtnisverlust, das zunächst weder der Zuschauer noch der Protagonist kennen, und das Leben das ohne ein Gedächtnis beginnt. Daraus ergeben sich zwei Analyseebenen: Auf äußerer Ebene, die wir als Zuschauer diachronisch mit M erleben, haben wir es mit einer Entwicklung zu tun, die jener zu Beginn des menschlichen Lebens gleicht. M wird seiner Vorgeschichte beraubt und muss sein Ich gänzlich neu aufbauen. Er muss die Regeln der Gemeinschaft neu erlernen und sich wie ein Heranwachsender den Respekt der gesellschaftlichen Instanzen erarbeiten, bis er selbständig lebensfähig ist.

Diese äußere Lesart des Films entspricht damit der Herausbildung des Ich und den archetypischen Konflikten der ersten Lebenshälfte. Auf der inneren Ebene lässt sich Ms Geschichte unter den Aspekten der zweiten Lebenshälfte betrachten. Die innere Ebene können wir als Zuschauer nur synchronisch nachvollziehen, da wir Ms Charakter, seine Defizite und Mängel erst gegen Ende des Films vollständig erfahren. Ohne bewusst sein Defizit zu kennen, durchläuft M bei der Herausbildung seiner zweiten Identität auch eine innere Entwicklung auf hohem Niveau, die ihn am Ende seine Schwächen aus dem früheren Leben überwinden lässt. Auf der inneren Ebene haben wir es also mit der archetypischen Herausbildung des Selbst zu tun.

  1. Die Figurenbezeichnung »M« ist aus dem Abspann des Films übernommen. Zwar erfahren wir zum Ende Ms wirklichen Namen, doch die Namenlosigkeit kennzeichnet seine Figur und wird im Folgenden daher beibehalten.