Die zwei Drachen

Ist der Abstieg in die Unterwelt vollbracht, beginnt für den Helden der Weg der Initiation. Campbell beschreibt in der Intitiationsphase die Begegnung mit mehreren archetypischen Gestalten, wobei dem Helden zunächst eine weibliche Figur nacheinander als Göttin und Verführerin erscheint. Daraufhin folgt die Auseinandersetzung mit dem Vater-Drachen. Diese männliche und weibliche Kraft entspricht den Archetypen des Schatten und der Anima (des Seelenbildes), die jeweils ein eigenständiges Konfliktfeld verursachen. Ihr Wirken ist nur bedingt in prototypischen Stadien darstellbar, da sie den gesamten Fortgang des 2. Akts bestimmen und in mehreren, nur schwer zu verallgemeinernden Schritten vom Helden erobert, überwunden bzw. integriert werden. Auch wenn er den Schatten erwähnt, werden diese zwei Grundkräfte bei Vogler in dieser Form nicht genannt. Stattdessen zählt er zahlreiche mögliche Erscheinungsformen von Gegnern und Verbündeten auf, denen er z.T. eine eigenständige archetypische Gestalt unterstellt. Jedoch ist davon auszugehen, dass alle Gegner und Verbündeten des Helden, sofern sie nicht Erscheinungen des Selbst sind, einem der beiden Konfliktfelder von Seelenbild und Schatten zuzuordnen sind.

Die archetypischen Kräfte von Schatten und Seelenbild nicht ausschließlich in der Manifestation einer bestimmten Figur (konkreter Gegenspieler bzw. Geliebte) aufzufassen ist insofern wichtig, als nur auf diese Weise die vielschichtigen Konflikt-Spiegelungen zwischen allen agierenden Figuren und dem Helden im Hinblick auf ein Konfliktfeld erfasst werden können. Um die beiden archetypischen Konflikt-Kräfte möglichst allgemeingültig zu klassifizieren, nenne ich sie den männlichen und den weiblichen Drachen, wobei ihre Funktion mit dem Geschlecht des Helden variiert. Bei einem männlichen Helden entspricht der männliche Drache in aller Regel dem Schatten, der weibliche Drache dem der Anima. Bei einer Heldin ist dies entsprechend umgekehrt. Zwar ist das Geschlecht der Figuren kein absolutes Merkmal, da sich die spezifischen Qualitäten der Archetypen nicht notwendigerweise durch das Geschlecht transportieren, jedoch ist es ein Leitfaden, um die beiden Drachen-Kräfte auszumachen. Selbst wenn die Archetypen nicht in körperlichem Geschlecht manifestiert sind, sind ihnen dennoch geschlechtsspezifische Charakteristika zueigen.

Der männliche Drache

In Der Mann ohne Vergangenheit erstreckt sich das Konfliktfeld des Schatten über zahlreiche Ebenen, wobei zwei unterschiedliche Schatten-Aspekte Schwerpunkte bilden:

Der tierisch-triebhafte Schatten-Aspekt findet seinen Ausdruck in Ms Konflikt mit Anttila, der in der Unterstützung Ms durch zahlreiche Nebenfiguren ein Gegengewicht und eine Entwicklung erfährt. Während M selbst als Teil der Gemeinschaft schnell gelernt hat, dass er nur durch ein hohes Maß an Opferbereitschaft und Kollegialität bestehen kann, ist Anttila, der sich als »die Peitsche Gottes« vorstellt, die Habgier in Person. Er kauft sich seine Autorität auf Kosten seiner Mitmenschen, indem er sie denunziert und ausbeutet, obwohl er der einzige auf dem gesamten Containerplatz ist, der einen gewissen Wohlstand genießt. Menschlichkeit ist ihm fremd und um diese zu kompensieren, liegt sein einziges Sinnen und Trachten auf dem Ausbau seines materiellen Status Quo. Wenn ihm dies nicht auf einfachem Wege gelingt, ist er zu jeglicher Grausamkeit bereit – zumindest postuliert er dies mit Vorliebe. Damit bildet er das perfekte Gegenstück zu M, welchem mangels materieller Werte nur die Menschlichkeit und Güte zum Bestehen bleibt. Nicht zuletzt sein eigenes Gewalt-Erlebnis macht ihm dieses Mittel abspenstig.

Der Triebcharakter des Konflikts um Anttila wird deutlich symbolisiert in Anttilas Hund Hannibal. Während der ersten Begegnung zwischen Anttila und M droht Anttila, seinen »Bluthund« auf M zu hetzen, wenn er nicht pünktlich seine Miete zahlt. In ihrer nächsten Begegnung bittet M Anttila um Zahlungsaufschub, woraufhin Anttila seinen Hannibal auf M ansetzt. Doch statt zu beißen, wedelt der friedliche Hund nur mit dem Schwanz. Anttila übergibt M den Hund für ein paar Tage in Pflege, mit der Warnung, »Wenn du lebensmüde bist, kannst du versuchen, ihn zu streicheln.« Zum Abschluss der Szene sehen wir Hannibal friedlich neben M im Bett liegen. In den Auseinandersetzungen mit Anttila tut M gut daran, freundlich, selbstbewusst und dennoch nicht unterwürfig zu bleiben, womit er Anttilas aggressive Tendenzen Stück für Stück ins Leere laufen lässt. Je weniger M sich ihm als Angriffsfläche darbietet, desto mehr wird die Schattenintegration vollzogen. Hannibal ist in diesem Fall der Stellvertreter für Anttilas Triebnatur.

Je mehr Anttila an Autorität verliert, desto mehr zeigt sich dies in Ms Verhältnis zu Hannibal. Zunächst ist er der schwänzelnde »Bluthund«, der zum liebenswerten Pflegehund wird. Als M Anttila bei der nächsten Begegnung offenbart, dass Hannibal eine Hündin ist, ist Anttilas Autorität endgültig gebrochen und Hannibal geht vollständig in Ms Besitz über, womit er die Triebnatur des Schattenarchetyps integriert hat. Dennoch bleibt der Konflikt zwischen Anttila und M bestehen, jedoch erfährt er eine deutliche Wandlung. Anttila versucht weiterhin, seine Autorität zu markieren, was ihm immer weniger gelingt. Das Motiv des (tierischen) Verbündeten, der sich als eroberter Anteil des Schatten relativ früh zum Helden gesellt, findet sich häufig, sodass man die Integration der ersten Kraft aus dem Schatten als prototypische Entwicklungsstufe festhalten kann.

Das Konfliktfeld um Anttila weist jedoch noch weitere Facetten auf, wenn man die Geschichte auf ihr Ende hin betrachtet. Erst am Ende erfahren wir, was Ms charakterlicher Mangel ist. In seinem »früheren Leben« war er Spieler und hat durch seine Sucht nicht nur seine wirtschaftliche Sicherheit, sondern auch seine Ehe verspielt. Auch der Aspekt der Verschwendung, der seiner Spielsucht innewohnt, ist ein Schattenanteil, der sich im Konfliktfeld in Nieminen manifestiert. Nieminen erscheint immer wieder in tricksterhaften Zügen und ist die Verkörperung dessen, was M selbst überwinden will. Immer wieder gerät Nieminen in Clinch mit seiner Frau, weil er sein spärliches Gehalt lieber in der Kneipe lässt, als es seiner Familie zugute kommen zu lassen. Dabei ist es nicht absichtliche Boshaftigkeit, die ihn treibt, sondern Kurzsichtigkeit und ein unangebrachter Hedonismus, der ähnlich wie Anttilas Gier, egoistische Züge trägt. Anttila und Nieminen verkörpern damit zwei entgegengesetzte und dennoch eng verwandte Schatten-Aspekte, mit denen M konfrontiert ist:

Abb. 10 – Schattenaspekte in DER MANN OHNE VERGANGENHEIT

Abb. 10 – Schattenaspekte in DER MANN OHNE VERGANGENHEIT

Geiz ist das Gegenteil von Verschwendungssucht, beide gehören jedoch in den triebhaften, unkultivierten Persönlichkeitsbereich. Ms Herausforderung besteht darin, sich die positiven Anteile beider Extreme zueigen zu machen und in einem ausgewogenen Mittelmaß von Eigennützigkeit und Gemeinschaftssinn die Fähigkeit zu entwickeln, wirtschaftlich zu handeln und sein Leben mit wohl kalkuliertem Vorausblick zu stabilisieren. Erst in der Ausgewogenheit beider Schatten-Aspekte ergibt sich eine Wirtschaftlichkeit, die als Form von Kultivierung eine Errungenschaft des Bewusstseins ist.

Ein weiterer, gänzlich anders gelagerter Schatten-Aspekt ist der geistig-moralische, der durch Ms Konflikt mit den Behörden zum Ausdruck kommt. In der unmenschlichen, gefühllosen Kälte der Bürokratie finden wir das Wesen des negativen Großen Geist-Vaters wieder. Sein gnadenloses Walten entbehrt jeder Menschlichkeit und richtet sich einzig nach rationalen, i.d.F. bürokratischen Maßstäben. Immer wieder scheitert M bei den Behörden, da er keine Identität nachweisen kann. Dabei wird Identität zur Voraussetzung für respektvolle Behandlung. Hier werden die Parallelen zur ersten Lebenshälfte, d.h. zur Ich-Entwicklung, deutlich. Solange M seine Identität – sein Ich – nicht ausgebildet hat, bleibt es ihm versagt, als rechtschaffender Bürger am Kollektiv teilzuhaben. Erst der innerlich ausgefochtene Kampf um die eigene Identitätsbildung ermöglicht ihm das »Erwachsenwerden« und damit die Integration in die Gesellschaft als deren aktives Mitglied.

Der weibliche Drache

Campbells Umschreibung des weiblichen Drachens verleiht uns in äußerst anschaulicher, mythischer Sprache eine Vorstellung dessen, was in wissenschaftlicher Sprache nur umständlich wiedergegeben werden kann, nämlich welche umfassende Bedeutung wir der Anima als Grundkraft jeder mythischen Geschichte beimessen müssen:

»Sie ist der Innbegriff aller Schönheit, die Antwort auf alles Begehren, das beseligende Ziel jeder irdischen und unirdischen Heldenfahrt. Sie ist Mutter, Schwester, Geliebte und Braut. Was immer in der Welt gelockt, was immer Freude versprochen hat, war ein Hinweis auf ihre Existenz, sei’s in der Tiefe des Schlafes, sei’s in den Städten und Wäldern der Erde. Denn sie ist die Inkarnation des Versprechens der Vollkommenheit, die Gewissheit der Seele, dass sie am Schluss ihres Exils in einer Welt kreatürlicher Unvollkommenheit wieder die verlorene Seligkeit schmecken wird: die bei der zärtlichen, nährenden, ›guten‹ Mutter, die jung und schön ist, wie wir sie in der entferntesten Vergangenheit kannten. Die Zeit hat sie verschlossen, aber sie wohnt noch, wie jemand, der in zeitlosem Schlafe liegt, auf dem Grund der zeitlosen See.« 1

Gleichzeitig weist Campbell darauf hin, dass es neben der guten auch die ›böse‹ Mutter gibt, die in die Beziehung zur inneren Göttin hineinspielt. Die Sehnsucht nach der reinen Göttin der Vollkommenheit und die raue, verschlingende und sanktionierende Mutter sind Aspekte, die das Wesen der Anima prägen. Auch letzteren Aspekt nicht zu scheuen und das Wesen der Anima als Ganzes anzunehmen, führt zu jener psychischen Vereinigung, die die Mythologien mit dem Motiv der heiligen Hochzeit darstellen. Auch Ms Begegnung mit seiner Anima-Projektion ist von der rauen Seite geprägt und er muss diese zunächst überwinden, um ihre sanftmütige, zärtliche Seite zu erobern. Irma ist die Verkörperung von Ms Anima. Ihre Liebe zu gewinnen ist für M mit einer Herausforderung verbunden, denn Irmas Schüchternheit hält M ständig auf Distanz. Sie ist ihm wohlgesonnen, doch kann sie ihm dies nicht von vornherein zeigen. Nur indem er sich von ihrem rauen Wesen nicht abschrecken lässt, immer wieder die versteckte Leidenschaft in ihr erkennt und zaghaft an sie appelliert, gewinnt er Irmas Vertrauen, bis sie schließlich in der Lage ist, ihre Sehnsüchte, die unter einem Berg von Unsicherheit begraben liegen, auszuleben.

Doch Irmas Anima-Funktion beschränkt sich nicht auf die Rolle der Geliebten, sondern in ihr werden die Qualitäten der Seelenführerin deutlich. Als Mitarbeiterin der Heilsarmee sorgt sie dafür, dass M sich aus seinem Elend befreien kann. Sie kleidet ihn neu ein, besorgt ihm eine Anstellung und organisiert einen Anwalt, um M aus dem Gefängnis zu holen. Jede Hilfestellung von Irma fordert von M jedoch eine Entwicklungsleistung, bevor sie ihm ihr unterstützendes Potential zur Verfügung stellt. Als M beispielsweise die Kleiderspende betritt, bezeichnet er sich vor Irma als ein Nichts. Statt ihn mitleidig zu bauchpinseln, erklärt sie ihm in einem sachlichen Tonfall, dass man erst im Himmel mit Gottes Erbarmen rechnen könne, auf der Erde hingegen müsse man sich auf sich selbst verlassen. Statt sich weiter selbst zu vernichten, zeigt sich M bereit, ihre Worte zu befolgen und probiert einen Anzug an, der ihn auf der Jobsuche kleiden soll. Als er sich Irma im Anzug präsentiert, erhält er seine Bestätigung, indem sie ihm ihre Überzeugung bekundet, er würde es noch weit bringen. Irmas sachlicher, aber wohlgemeinter Tonfall durchzieht ihre Begegnungen mit M und bringt damit das Wesen der Seelenführerin zum Ausdruck: Sie (er)kennt das Potential, das im Helden steckt und weiß um die Hürden, die er überwinden muss. Doch statt sich aufzuopfern und dem Helden alle Mühen zu ersparen, geleitet sie ihn durch die Schwierigkeiten und fordert seine aktive Auseinandersetzung mit ihnen. Lässt der Held sich darauf ein, indem er auf die Weisungen der Seelenführerin vertraut und den Weg nicht scheut, wird er die Schwierigkeiten überwinden und kann sich zur Belohnung einen Teil ihrer Energie zueigen machen.

Irmas Hilfestellung in Fragen der Lebensbewältigung ist allerdings nur ein Anteil ihrer Anima-Gestalt. Um ihre Unterstützung zu gewinnen, genügt es, dass M sich nicht gehen lässt. Um Irma selbst für sich zu gewinnen, muss M etwas mehr leisten: Er muss seine Würde bewahren und ihr diese fortwährend zum Ausdruck bringen. Auch diese indirekte, unbewusst gestellte Herausforderung an M gehört zu Irmas Qualitäten als Seelenführerin. Denn die Würde die sich M immer wieder erkämpfen muss, hilft ihm, sich bei den ernüchternden Schatten-Begegnungen mit Anttila und den Behörden nicht innerlich zerstören zu lassen, sondern beharrlich sein Ziel zu verfolgen. Je mehr M gegen alle Widrigkeiten ankämpft, desto mehr gewinnt er Irmas Achtung und ihr Vertrauen. Als sie schließlich ihre Liebe für einander ausleben, ist der Prozess der Anima-Integration geglückt und auch Irma wird nun fähig, ihre ungelebten Seiten zu entfalten. In der tiefenpsychologischen Übersetzung entspricht dies jenem Effekt, der für das Individuum mit der Integration der Anima einhergeht. Die tief im Unbewussten verborgenen Anima-Anteile werden gehoben und in neues Potential gewandelt, das dem Ich daraufhin zur Verfügung steht. Konkret entspricht dies der nun erschlossenen vierten Bewusstseinsfunktion und dem Ausleben des zum Bewusstsein komplementären Einstellungstyps. Sind beide mit dem Bewusstsein verbunden, kann die transzendente Funktion aktiv werden und das Ich mit neuer, schöpferischer Kraft versorgen, die ihm einen Zuwachs an Handlungsspielraum eröffnet.

Ein weiterer Aspekt des weiblichen Drachens, der jenen des Großen Geistvaters in Gestalt der Behörden ergänzt, findet sich in der Heilsarmee. Als Verkörperung der Großen Mutter ist sie die nährende und schützende Institution, die mit Barmherzigkeit ihren verlorenen Kindern zur Seite steht und über die kalte Realität der Dinge dennoch nicht hinwegtäuscht. Ebenso wie sich ein Kind von seiner Mutter lösen muss, ist es Ms Aufgabe, sich langfristig von der Heilsarmee zu lösen. Sein Erwachsenwerden und damit seine Loslösung der Großen Mutter-Institution wird markiert durch Ms Engagement als Manager der hauseigenen Band. Als M sich um den Aufbau der altmodischen Kapelle bemüht, signalisiert er der Heilsarmee seine Eigenständigkeit. In seiner Tätigkeit als Band-Manager steht er nicht mehr unter dem Schutz der Großen Mutter, sondern kann ihr erstmals etwas zurückgeben, was seine neue Unabhängigkeit zum Ausdruck bringt.

  1. Campbell 1999, S. 107 f