Synchronische und diachronischeLesart der Reise
Wie oben angeführt, ist es für die tiefenpsychologische Deutung nötig, die archetypischen Kräfte von Helden- und Lebensreise in einem Systemzusammenhang zu betrachten. Damit wird es unumgänglich, Voglers Vorgehen, die Stufen der Heldenreise als paradigmatische Abfolge dramaturgischer Stufen zu betrachten, in Frage zu stellen. Tatsächlich erscheinen bestimmte Stationen der Reise in der praktischen Anwendung als charakteristische Fixpunkte einer Geschichte (Anstoß, Wendepunkte, Höhepunkt etc.), jedoch führt eine zu starke Verknüpfung von dramaturgischen Größen und mythischen Motiven zu einer falschen Vorstellung vom Wesen der Archetypen. Ein einzelner Archetyp wie z.B. der Mentor kann in einem Film mehrmals auftauchen und dabei in gänzlich andere Figuren schlüpfen. Aber nicht jede einzelne Erscheinung des Mentors im Verlauf der Geschichte ist für die Psychologie der Heldenreise interessant, womit das Paradigma der chronologischen Deutung bereits einen Bruch erleidet. Interessant ist, um beim Beispiel zu bleiben, das gesamte Motiv des Mentors. Denn erst all seine Erscheinungen zusammen erlauben uns eine Vorstellung von der Bedeutung des Mentors für das Gesamtsystem des Werks und damit für das Ziel der Reise des filmischen Helden.
Zwar teilt Vogler die Auffassung, dass ein Archetyp immer wiederkehren kann, doch ist sein Zugang stark diachronisch geprägt, d.h. die Beziehungen der Archetypen untereinander werden nicht berücksichtigt. Für die tiefenpsychologische Betrachtung ist es allerdings notwendig, den Blick auf die Heldenreise synchronisch zu öffnen. Alle Archetypen sind im Menschen (im Helden) bereits zu Beginn der Reise angelegt, d.h. selbst wenn sie in einer paradigmatischen Reihenfolge ihre offenkundige Wirkung entfalten, sind sie als latent wirkende Kräfte immer vorhanden und auf ein bereits zu Beginn festgelegtes Entwicklungsergebnis hin ausgerichtet. Da ein Archetyp unendlich flexibel erscheinen kann, ist seine Strategie nur schwer auf eine allgemeingültige Formel zu bringen, die chronologisch zuverlässig darstellbar wäre. Auch die psychische Entwicklung des Menschen erfolgt entlang zweier Achsen: Horizontal im Verstreichen der Lebenszeit, vertikal in der Zeit-unabhängigen Entwicklung der Psyche in die Tiefen des Unbewussten hinein. Beide Lesarten sind auch in der Betrachtung der Heldenreise möglich und nötig, wenn man ein annähernd vervollständigtes Bild von der Komplexität des psychischen Entwicklungsprozesses erhalten will. Um dieses dreidimensionale System möglichst umfassend darzulegen, werde ich im Folgenden die psychische Entwicklung des Menschen und ihre Projektion in mythischen Motiven zunächst aus einer überwiegend synchronischen Perspektive erläutern und im Anschluss daran die wichtigsten Positionen in der diachronischen Betrachtung anhand einer Filmanalyse zusammentragen.