Landkarten der Seele:
Der Mythos nach Joseph Campbell

Das Verdienst des Mythenforschers Joseph Campbell ist zweifelsohne, die psychologische Bedeutung des Mythos in einer umfassenden und bis dato qualitativ einmaligen Weise beschrieben zu haben. Campbell hat nicht weniger geleistet, als tausende von Mythen, Märchen und Religionsgeschichten aus der ganzen Welt auf ihre Struktur und ihren Symbolcharakter hin zu untersuchen und zu vergleichen. Die Ergebnisse erlauben uns nicht nur einen tiefen Einblick in das Wesen des Mythos und seine Funktion für die menschliche Entwicklung, sondern sie geben uns auch eine Grundlage an die Hand, die mythische Symbolebene in zeitgenössischen Erzählungen unter einem erweiterten Blickwinkel zu betrachten.

Campbell versteht Mythen als symbolische Erzählungen, die kollektive Prozesse abbilden. Er erkannte, dass die Mythologien verschiedener Völker zwar in ihrer konkreten Ausformung sehr individuell geprägt sein können, ihnen jedoch stets ein universeller Kern zugrunde liegt, der sowohl über die Jahrtausende als auch über geographische Grenzen hinweg unveränderlich ist. Dieser unveränderliche Kern ist der eigentliche Mythos und die Ursache für seine Universalität muss auf einer Ebene gesucht werden, die all jenen Kulturen trotz ihrer Verschiedenheit gemein ist. Diese Ebene findet sich für Campbell in der Psyche des Menschen. Der Mythos sei eine »innere Landkarte von Erfahrungswelten« 1 und der Schlüssel zu den geistigen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. So wie Jesus seine Jünger lehrte, das Himmelreich sei inwendig in ihnen, versteht auch Campbell die Botschaften des Mythos als Manifestationen der menschlichen Seele, die der eigentliche Schauplatz aller mythischen Handlungen ist.

Ebenso wie alle Götter nichts weiter als Projektionen menschlicher Persönlichkeitsanteile sind, ist auch das Paradies ein Ort, der nicht im äußerlichen Jenseits, sondern im Innern des Menschen zu suchen ist. Der Mythos ist der geheime Zufluss, »durch den die unerschöpflichen Energien des Kosmos in die Erscheinungen der menschlichen Kultur einströmen« 2 und Religionen, Philosophien, verschiedene Gesellschaftsformen, ebenso wie die Urentdeckungen der Wissenschaft und Technik gehen aus ihm hervor. All sie entstehen durch die stetige Produktion mythischer Symbole durch den Menschen, der er sich weder erwehren, noch willentlich diesen Prozess steuern kann. Denn mythische Symbole sind nicht künstlich erzeugt und können daher auch nicht unterdrückt werden. Sie sind »spontane Hervorbringungen der menschlichen Psyche«1 3 und zeugen von einem konstanten Bedürfnis selbiger, das sich der kleinen Insel des menschlichen Verstandes niemals in Gänze erschließt.

Ausdruck findet dieses Bedürfnis der Psyche vor allem in einer weiteren Ausprägung des Mythos, im Traum. Campbell beschreibt den Traum als verpersönlichten Mythos, Mythos wiederum als entpersönlichten Traum. Beide zeugen gleichermaßen von der Dynamik der Psyche und ihren symbolischen Emanationen. Vor allem vor dem Hintergrund dieser engen Verwandtschaft schätzt Campbell die Psychologie und die Psychoanalyse als vielleicht bedeutendste Wissenschaften der Gegenwart für die Erforschung des Mythos:

»Mythos sei Psychologie, missverstanden als Biografie, Historie und Kosmologie. Die moderne Psychologie kann ihn in die adäquaten Begriffe zurückübersetzen und so ein reiches und beredtes Zeugnis der entlegensten Tiefen des menschlichen Wesens für unsere Welt wieder zugänglich machen und ihr wie auf einem Röntgenschirm die im Rätsel Mensch … verborgenen Vorgänge unverhüllt vor Augen stellen.«  4

Dass Mythos und Traum derselben Quelle entspringen, illustriert Campbell mit einem Beispiel der australischen Eingeborenen: Zur Initiation eines pubertären Jungen ins Erwachsensein sei es bei den Murngin üblich, ihn zu beschneiden. Hierfür wird dem Jungen gesagt »Die große Vaterschlange riecht deine Vorhaut und verlangt sie«, woraufhin der Junge die Androhung wörtlich nimmt und bei den Frauen des Stammes Schutz sucht. Ein entsprechendes Traummotiv findet sich bei C. G. Jung, der den Traum eines Patienten folgendermaßen beschreibt: »Eine Schlange schießt aus einer feuchten Höhlung hervor und beißt den Träumer in die Genitalgegend.« 5 Während die Beschneidung des Jungen bei den Murngin seinen Übergang ins Erwachsensein markiert, fand auch der Traum des Analysanden in einem Moment seiner Entwicklung statt, in dem er von der Analyse überzeugt war und begann, sich innerlich aus seiner Mutterbindung zu befreien. 6 Dieses Beispiel gewährt uns eine Ahnung von der Bedeutung, die die psychische Fähigkeit des Menschen, sich in mythischen Symbolen zu äußern, für seine Entwicklung hat. Denn als Manifestationen der Psyche treten mythische Emanationen nicht willkürlich auf, sondern stehen in Verbindung mit psychischen Entwicklungsstadien, die der Mensch durchläuft. Der Zusammenhang von Mythos und Lebensstadien ist von fundamentaler Bedeutung für das Mythenverständnis von Campbell, bildet es doch die Grundlage für seine bedeutendste Errungenschaft, die Offenlegung des Monomythos.

  1. Campbell 1989, S. 10
  2. Campbell 1999, S. 13
  3. Ebd., S. 13
  4. Ebd., S. 247
  5. Jung 1973, S. 481 f zitiert nach ebd., S. 20
  6. Vgl. ebd., S. 19 f