Universelle Botschaften der Mythen

Der kosmogonische Zyklus

»Wie das Bewusstsein des Individuums auf einem nächtlichen Meer ruht, in das es im Schlummer hinabsteigt und aus dem es geheimnisvoll wieder aufwacht, so ragt in der Bilderwelt des Mythos das Universum aus einem zeitlosen Fundament, auf dem es ruht und in das es wieder zurückgeht.«  1 Jeder Mythos steht somit nicht nur für sich, sondern ist gebettet in ein Wissen um den sich immer wiederholenden Wechsel von Schöpfung aus einem Urgrund kosmischer Einheit und dem Untergang alles Seienden, wenn es in den Urzustand der Einheit zurückkehrt. So wie die Kosmogonien aller Mythologien mit ihrem Wissen um das ewige Werden und Vergehen das Entstehen der Welt an sich erklären, enthalten sie gleichsam auch das Wissen darum, dass der größte Zyklus wiederum unzählige Zyklen gleicher Form einschließt; sei es das Leben der Menschen, das sich durch Geburt und Tod beständig erneuert oder auch der tägliche Zyklus von Schlafen und Wachen, der sich im Leben eines Menschen unzählige Male wiederholt.

»Der kosmogonische Zyklus ist zu verstehen als die Bewegung des Allbewußtseins aus der Tiefschlafzone des Unmanifesten durch den Traum zum vollen Tag des Wachens und wieder zurück durch den Traum in das zeitlose Dunkel. Wie in der aktuellen Erfahrung jedes lebenden Wesens, so ist es in der großen Figur des lebendigen Kosmos: im Abgrund des Schlafs werden die Energien aufgeladen, in der Arbeit des Tages verbraucht, und ebenso muss das Leben des Alls wieder hinabsteigen und erneuert werden.« 2

Die Bedeutung des kosmogonischen Zyklus für die Reise des Helden kann nicht hoch genug geschätzt werden, ist doch das Erkennen dieses ewigen Kreislaufs, der jedwede individuellen Bedürfnisse bedeutungslos werden lässt, die wohl wichtigste Einsicht, die der Held auf seiner Reise erlangt. So ist auch die mythische Reise ein Prozess ständiger Wiederholung, der damit nicht nur vom Werden und Vergehen des Menschen, sondern gleichsam auch vom Ursprung und Zusammenhang allen Seins berichtet.

Einheit und Gegensatzprinzip

Das Entstehen des Lebens aus der Einheit eines Weltgrunds geht in jeder Mythologie einher mit der Erkenntnis der polaren Natur des Lebens. Wie in der Bibel der Sündenfall den Beginn aller Konflikte, allen Leidens und Unglücks darstellt und seine Überwindung erst mit dem Überwinden des Lebens an sich erreicht werden kann, schlummert die Sehnsucht nach der paradiesischen Einheit auch in jeder Heldengeschichte. Das volle (An-)Erkennen der dualen Natur des Menschen und des Lebens allgemein ist daher die eigentliche Aufgabe des mythischen Helden, die er im maximalen Spannungsfeld der Gegensätze kämpferisch meistern muss, bis er in voller Kenntnis der Doppelgesichtigkeit der Dinge in die Einheit des Ursprungs zurückkehren kann.

  1. Campbell 1999, S. 254
  2. Campbell 1999, S. 259