Die Archetypen des Unbewussten und ihr Konfliktpotential

Der Schatten: Das antagonistische Konfliktfeld

»[D]ie lebende Gestalt bedarf tiefer Schatten, um plastisch zu erscheinen. Ohne den Schatten bleibt sie ein flächenhaftes Trugbild.« 1 Daher wirft auch das Ich seinen Schatten ins Unbewusste. Jacobi bezeichnet den Schatten als unseren »dunkler Bruder«, der ebenso unzertrennlich zu uns gehört, wie alle lichten Persönlichkeitsanteile auch. Er ist das Gegenüber unseres Ichs und er wächst und verdichtet sich stets im Gleichschritt mit ihm. »Jedermann ist gefolgt von einem Schatten, aber je weniger dieser im bewussten Leben des Individuums verkörpert ist, umso schwärzer und dichter ist er.« 2

Der Schatten enthält all jene Inhalte, die mit unserem bewussten Lebenskonzept nicht kompatibel sind. Zur Stärkung des Ich und zur Etablierung in der Gemeinschaft sind diese nicht konformen Inhalte hinderlich, so werden sie in das Unbewusste verdrängt und formieren sich dort zum Schatten. Als inferiorer Teil der Persönlichkeit handelt es sich beim Schatten vor allem um einen Teil des persönlichen Unbewussten. Da kollektive Aspekte wie der herrschende Zeitgeist und kollektive Normen zur Ausprägung des Schattens ihr Übriges tun, enthält er ebenso einen kollektiven Aspekt und markiert so den Übergang in die tieferen Schichten des Unbewussten:

»Unter dem individuellen Aspekt steht der Schatten für das ›persönliche Dunkel‹ als die Personifikation der während unseres Lebens nicht zugelassenen, verworfenen, verdrängten Inhalte unserer Psyche, die unter Umständen auch einen positiven Charakter haben können, unter dem kollektiven Aspekt für die allgemein-menschliche dunkle Seite in uns, für die jedem Menschen innewohnende strukturelle Bereitschaft zum Minderwertigen und Dunklen.« 3

Doch neben all jenen als minderwertig beurteilten Inhalten enthält der Schatten auch Potentiale und unausgelebte Möglichkeiten des Individuums, die vom Kollektiv durchaus als positiv bewertet werden. Denn auch alle Fähigkeiten, die vom Ich nicht kultiviert werden, sind zu einem Schattendasein verurteilt. Ein Kind mit musischer Begabung beispielsweise muss diese in den Schatten verlagern, wenn seine Eltern die Begabung nicht fördern. Um sich im Kreis der Gemeinschaft (der Familie) entwickeln zu können, ist es für das Kind notwendig, erwünschte Potentiale zu entwickeln und unerwünschte »zu vergessen«. Folglich wird sich die musische Begabung auf subtilerem, unbewusst gesteuertem Wege äußern, indem das Kind z.B. viel träumt und eine starke Fantasie entwickelt. Am Beispiel wird deutlich, dass die Inhalte des Schattens insofern frei von einer Wertung sind, da diese immer nur durch das Bewusstsein in einer bestimmten Lebenslage abgegeben werden kann.

»Wenn man bis dahin der Meinung war, dass der menschliche Schatten die Quelle allen Übels sei, so kann man nunmehr bei genauer Untersuchung entdecken, dass der unbewusste Mensch, eben der Schatten, nicht nur aus moralisch-verwerflichen Tendenzen besteht, sondern auch eine Reihe guter Qualitäten aufweist, nämlich normale Instinkte, zweckmäßige Reaktionen, wirklichkeitsgetreue Wahrnehmungen, schöpferische Impulse u.a.m.«  4

Wie alle Inhalte des Unbewussten ist der Schatten für uns nicht unmittelbar erfahrbar, sondern wir sind auf die Manifestationen angewiesen, in denen er sich uns in der Außenwelt darbietet. Zwar können wir ihm auch in Träumen begegnen, doch wählt der Schatten mit Vorliebe das Mittel der Projektion, um sich zu erkennen zu geben. Indem wir unsere Mitmenschen verfluchen für bestimmte Wesenszüge, die uns immer wieder zur Raserei bringen, merken wir nicht, dass es unsere eigenen ungeliebten Wesenszüge sind, die wir an den anderen mit gesteigerter Sensibilität wahrnehmen.

»Für unser bewusstes Erkenntnisvermögen ist unser Schatten das, was uns an anderen Menschen zuwider ist. Wer also etwas von seinem Schatten erfahren will, braucht gar nicht erst versuchen, ihn in sich selbst dingfest zu machen, sondern er muss nur die Horde der ihm unsympathischen Menschen Revue passieren lassen, dann hat man ihn!« 5

Wenn sich der Schatten in Träumen zeigt, dann häufig in einer Person aus dem direkten Umfeld des Träumers wie Bruder oder Schwester, in der Regel hat er das gleiche Geschlecht wie der Träumer selbst. Sein kollektiver Aspekt kann sich in negativen Figuren wie einer negativen Variante des Alten Weisen zu erkennen geben und verweist damit auf die allgemein-menschlichen Abgründe, die auch zu hoch entwickelten Persönlichkeiten gehören und Aufmerksamkeit vom Bewusstsein fordern. Der Kampf zwischen Ich und Schatten ist eine typisch mythische Konstellation, die in den Mythologien und in der Literatur unzählige Male beleuchtet wurde. Häufig ist hier das Motiv des guten und des bösen Bruders, wofür uns die Geschichte um Kain und Abel das biblische Vorbild liefert.

Eines der prominentesten Literatur-Beispiele für die Ich/Schatten-Konstellation sind Faust und Mephisto. Das Missverständnis, das ihren Konflikt begründet, macht beispielhaft deutlich, wie unterschiedlich die Interessen von Schatten und Ich gelagert sein können: Als intellektueller Geistesmensch ist Faust lediglich daran interessiert, die Zusammenhänge der Welt zu verstehen, wohingegen Mephisto stets bemüht ist, ihn für die leiblichen Genüsse aufzuschließen. Ihren Pakt schließen sie mit einer vollkommen unterschiedlichen Vorstellung von Fausts Ziel. Da Faust seinem Schatten unterlegen ist, täte er gut daran, sich auf Mephistos Perspektive einzulassen. Doch gerade intellektuelle Gemüter tun sich schwer, eine niedere Wirklichkeit in sich selbst als existent zu erkennen.

Selbst wenn der Mythos vom Kampf zwischen Ich und Schatten in einer Geschichte nicht so explizit thematisiert wird wie in Goethes Faust, findet sich das Kräftespiel beider Instanzen dennoch in jeder dramatischen Erzählung wieder. Das Verhältnis von Ich und Schatten bildet die archetypische Grundlage für das Prinzip des Antagonismus, das McKee folgendermaßen charakterisiert: »Wie intellektuell faszinierend und emotional überzeugend ein Protagonist und seine Geschichte sind, hängt allein von den antagonistischen Kräften ab.« Dabei vereinen sich diese Kräfte in den seltensten Fällen in einer Figur, sondern sie bilden »die Summe aller Kräfte, die sich dem Wollen und dem Wunsch der Figur in den Weg stellen«. 6 Der Archetyp des Schatten eröffnet daher ein Problemfeld, dessen Konflikte niemals nur auf einer Ebene ausgetragen werden. Ein direkter Gegenspieler verkörpert in der Regel dieses Problemfeld, dessen übergeordneter Konflikt sich dennoch in zahlreichen weiteren Konflikten mit anderen antagonistischen Figuren spiegelt.

Das Spannungsverhältnis zwischen Protagonist und antagonistischen Kräften generiert sich dabei aus einem charakterlichen Mangel des Helden, den er zu überwinden bestrebt ist. Je mehr wir etwas für uns selbst ablehnen, desto tiefer ist es in unserem Schatten verankert. Aus dieser tiefen Ablehnung heraus speist sich das Verhältnis des Helden zu seinen Widersachern und seine Ablehnung der antagonistischen Bestrebungen, deren Facetten immer ein innerliches Defizit des  Helden markieren. Die innere Kluft zwischen den vom Ich erwünschten Eigenschaften (protagonistische Kräfte) und den vom Schatten gelebten Eigenschaften (antagonistische Kräfte) gilt es im Sinne der Gegensatzvereinigung zu überwinden, was nur durch die Konfrontation des Helden-Ich mit seiner dunklen Seite im offen ausgetragenen Kampf möglich ist.

Konkret äußert sich dieses Spannungsverhältnis in der Regel in einer komplementären Ausgestaltung der widerstrebenden Figuren. Ob der Held um sein Defizit weiß oder nicht, ist für das psychologische Grundprinzip zunächst nebensächlich. Entscheidend ist, dass sich sein Mangel in Ablehnung manifestiert. Sofern ein unmittelbarer Gegenspieler des Helden existiert, kumuliert er all jene Schatten-Inhalte, die dem Helden fehlen. In diesem Verhältnis kommt jedoch die relative Wertbesetzung der Schatten-Inhalte zum Ausdruck: Während sie im Antagonisten aufgrund ihrer Abspaltung negativen Charakter tragen, können sie in etwas Positives gewandelt werden, sobald der Protagonist sie sich zueigen macht. Abgespaltene Schatten-Inhalte führen im Unbewussten ein unkontrolliertes Eigenleben und kanalisieren sich in negativen Wesenszügen, solange sich das Ich gegen sie wehrt. Sind sie vom Ich als Teil der Gesamtpersönlichkeit erschlossen, können sie in ein nutzbares und kontrollierbares Potential verwandelt werden.

Ein äußerst komplexes Ich-Schatten-Verhältnis finden wir in der antagonistischen Konstellation in Das Schweigen der Lämmer: Clarice Starling ist eine Musterschülerin und getrieben von überdurchschnittlichem Ehrgeiz. Dennoch ist sie von großer Unsicherheit gezeichnet. Da sie sich in den Dienst der Verbrechensbekämpfung stellt, darf man ihr eine wertvolle moralische Erziehung unterstellen, doch schnell wird deutlich, dass nicht allein eine moralische Prägung für die Zeichnung ihrer Figur verantwortlich ist. Das Kindheitstrauma, Lämmer nicht vor der Schlachtung retten zu können, charakterisiert ihre tief sitzende Angst vor jenem Wesenszug der menschlichen Natur, der den Menschen zu Aggression und zum Töten befähigt. Kontrolliert und im Sinne des Menschen äußert sich diese Schattenseite im Töten von Lebewesen zum Zweck der Nahrungsgewinnung, wie es bei der Tötung der Lämmer (vermutlich) der Fall war. Doch dieses Erlebnis ist nur die Spiegelung einer tieferen Verwundung, die Clarice’ Angst vor den tierischen und zerstörerischen Trieben des Menschen begründet. Ihr Vater, ein Polizist, wurde in ihrer Kindheit bei einem Einsatz erschossen, d.h. sie hat auch den negativen, unkontrollierten Aspekt dieser aggressiven Schattenseite des Menschen früh kennen lernen müssen. Der gleichen charakterlichen Anlage begegnet sie nun bei Buffalo Bill, der ihren problematischen Schatten-Anteil verkörpert. Ihr Bedürfnis, Catherine stellvertretend für die Lämmer ihrer Kindheit vor seinen bestialischen Trieben zu retten, erweist sich in der psycho-logischen Gesamtheit jedoch nur als der oberflächliche Ausdruck ihrer früheren Verwundung. Darunter liegt die extreme Abspaltung aggressiver Persönlichkeitstendenzen.

Unterstrichen wird das Verhältnis von Ich und Schatten durch das Motiv von Freiheit und Gefangenschaft, das Clarice’ Prozess der Schatten-Integration markiert. Zu Beginn des Films ist Clarice gefangen in ihrer eigenen Unsicherheit und in den Grenzen ihrer defizitären Persönlichkeit. Buffalo Bill hingegen, ihr Schatten, ist auf freiem Fuß und seine Kräfte wirken unkontrolliert und destruktiv. Clarice Bedürfnis, Buffalo Bill zu fassen, ist dabei entgegengesetzt zu dem ausgerichtet, was die Begegnung mit ihm unbewusst in ihr auslösen wird. Indem sie mit aller Macht darauf hinarbeitet, wenigstens ein Mädchen aus seinen bestialischen Händen befreien zu können, hofft sie, ihr Kindheitstrauma zu überwinden. Der Kampf mit Buffalo Bill verlangt von ihr jedoch, sich in die Psyche ihres gestörten Widersachers möglichst präzise hineinzuversetzen, damit sie ihm auf die Spur kommt. Erst als es ihr gelingt, ein ausführliches Psychogramm von Buffalo Bill zu erstellen und auf diesem Wege seine Motivation zu quälen und zu töten nachvollziehen lernt, kann sie ihren inneren Konflikt lösen. Sie muss sich trotz aller Abscheu mit seinem Wesen vertraut machen und sich darüber mit den allgemein-menschlichen Abgründen konfrontieren. Die Integration ihres Schattens ist dann erfolgreich beendet, als sie Buffalo Bill fasst und sich selbst von ihrem charakterlichen Defizit der Unsicherheit befreit.

  1. Jacobi 2003, S. 111
  2. Ebd., S. 114
  3. Ebd., S. 113
  4. Jung, GW 9/II, § 423 zitiert nach Roth, S. 79f
  5. Barz, 1991, S. 34 zitiert nach Roth, S. 81
  6. Vgl. McKee 2001, S. 340