Mythos versus Märchen

Wenngleich ihre enge Verwandtschaft den voreiligen Schluss nahe legt, es handle sich beim Märchen um eine kleinere Form des Mythos, sind die Unterschiede zwischen beiden Gattungen bei genauerer Betrachtung weitreichender als ihre Gemeinsamkeiten zunächst vermuten lassen. Bruno Bettelheim bringt den Vergleich auf die knappe Formel, das Märchen sei optimistisch, der Mythos hingegen pessimistisch. 1 Doch diese radikale Unterscheidung wird weder dem Wesen des Märchens, noch dem des Mythos annähernd gerecht, denn die gattungsspezifischen Charakteristika von Mythos und Märchen (Volksmärchen und Kunstmärchen) lassen sich darüber hinaus stark differenzieren:

Max Lüthi sieht einen entscheidenden Unterschied in den perspektivischen Dimensionen beider Gattungen. Während im Märchen das Jenseits nicht thematisiert wird und numinose Wirkungen nicht existieren, richtet der Mythos seinen Blick stets vom diesseitigen Standpunkt in das Jenseits. Im Hinblick auf ihr jeweiliges Verhältnis zum Jenseitigen ließe sich das Märchen als verweltlichter Mythos bezeichnen. 2

Susanne Langer sieht die Unterschiede vor allem in der Funktion, die Märchen und Mythos jeweils erfüllen. Das Märchen steht dabei im Dienste des Menschen, indem es dessen Wünsche und ihre imaginäre Erfüllung zum Ausdruck bringt. Es dient dazu, mit seinen stets befriedigenden Lösungen die Unzulänglichkeiten des Alltags zu kompensieren, daher sind seine Helden, selbst wenn sie mit magischen Kräften beseelt sind, stets menschlicher und nie göttlicher Natur. Aufgrund seiner zweckdienlichen Funktion strebt jedes Märchen lediglich auf sein eigenes Ende zu und reicht in seiner Bedeutung nie darüber hinaus. Anders ist dies beim Mythos. Sein Sinn ist nicht die wunschgemäße Entstellung der Welt, sondern »eine ernste Anschauung ihrer fundamentalen Wahrheiten, nicht Flucht, sondern sittliche Orientierung.« 3 Im Gegensatz zum Märchen lebt der Mythos über seine Grenzen hinaus. Während niemand auf die Idee käme, Dornröschen und Schneewittchen seien vom selben Edelmann aus ihrer misslichen Lage befreit worden, sind derlei Überschneidungen im Mythos Gang und Gäbe. Einzelne mythische Geschichten verweben sich miteinander, bilden Zyklen und komplexe Mythologien und können oftmals kaum losgelöst voneinander betrachtet werden.

Dennoch ist das archetypische Material von Märchen und Mythos (ebenso wie vom Traum) das gleiche, nur machen beide unterschiedlichen Gebrauch davon: »das eine Mal geht es in erster Linie um die Vermittlung von stellvertretender Erfahrung, das andere Mal um das Verständnis von tatsächlicher Erfahrung.« 4 Doch gerade im Hinblick auf den Film wäre diese kategorische Unterscheidung wenig befriedigend und so räumt auch Langer ein, dass beide Interessen auch in ein und derselben Fiktion wahrgenommen werden können. Diese widersprüchlich anmutenden Aussagen über Märchen und Mythos werden verständlich, wenn man sie nicht als sich ausschließende Kategorien begreift, sondern vielmehr als ein Kontinuum von Möglichkeiten. »Eine klare Grenze gibt es hier nicht. Und doch sind Mythos und Märchen so verschieden voneinander wie Sommer und Winter, Tag und Nacht oder sonst welche Extreme, zwischen denen es einen genauen Nullpunkt nicht gibt.«1 5 Daher können Märchen für uns trotz ihrer zweckdienlichen Abwandlung des mythischen Urstoffs hilfreich sein, ein archetypisches Wissen zu erschließen, sofern man sich auf den ihnen innewohnenden Mythos besinnt und sich seine funktionalen Eigenheiten ins Bewusstsein ruft.

  1. Vgl. Bettelheim 1980, S. 46 f
  2. Vgl. Lüthi 2004, S. 11
  3. Langer 1992, S. 178
  4. Ebd. S. 178
  5. Ebd., S. 178 f