Der persönliche Mythos:
Die Individuation in der Analytischen Psychologie

Kaum ein Begriff dürfte den Naturwissenschaften mehr Probleme bereiten, als der Begriff der menschlichen »Seele«. Als sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die Psychologie als eigenständige Disziplin etablierte, definierten ihre Anhänger sie als »Wissenschaft von den Tatbeständen und Gesetzen des Erlebens« 1, deren Aufgabe es sein sollte, persönliche Erfahrungen von Individuen mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen. Eine zunehmende Kritik an der Wissenschaftlichkeit dieses Vorhabens, die vor allem durch die Anhänger des Behaviorismus vorgebracht wurde, führte zu einer Veränderung des Forschungsziels und die Psychologie definierte sich um zum »Studium des Verhaltens«. 2

Selbst wenn der anerkannte Begriff der »Psyche« etymologisch gleichbedeutend ist mit dem der »Seele«, weist die verhaltensorientierte Psychologie die Vorstellung einer Seele, deren Inhalte nicht vollständig als das Ergebnis von Lernprozessen erklärt werden können, heute weit von sich und verortet ihren Forschungsgegenstand vor allem in objektiv messbaren Erscheinungen der menschlichen Psyche. Parallel zur Herausbildung der verhaltensorientierten Psychologie hat jene psychologische Richtung, welche die Subjektivität der Psyche in den Vordergrund ihrer Untersuchungen rückt, jedoch ihre Anhängerschaft behalten. Die Vertreter der persönlichkeitspsychologischen Richtungen leugnen nicht die Bedeutsamkeit der Erkenntnisse von Wahrnehmungs- oder Lernpsychologie, gehen jedoch von einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen in seiner Selbstwahrnehmung und in seiner Interaktion mit anderen aus. 3

Auch wenn der Begriff der »Seele« in den einzelnen Ansätzen der Persönlichkeitspsychologie keine einheitliche Definition erfährt, bezieht er neben dem Bewusstsein in aller Regel auch die Existenz unbewusster Persönlichkeitsbereiche ein. Zur Etablierung der Persönlichkeitspsychologie war Sigmund Freud ein entscheidender Wegbereiter, seine Psychoanalyse wurde im Laufe der Zeit jedoch durch eine Vielzahl anderer Ansätze ergänzt. Auch die Analytische Psychologie Jungs kann in diese Entwicklungslinie eingeordnet werden, ebenso wie anfdere tiefenpsychologische, systemische oder humanistische Ansätze. In der Analytischen Psychologie wird die Gesamtpersönlichkeit als »Psyche« bezeichnet, was in Jungs Verständnis mit dem Begriff der »Seele« gleichzusetzen ist. Die Psyche enthält dabei sowohl bewusste wie auch unbewusste Vorgänge. Gefühlszustände, Erkenntnis- und Wahrnehmungsfähigkeit, ererbte wie erlernte Verhaltensmuster und schließlich die hypothetische Anlage zur individuellen Entwicklung der Persönlichkeit des Menschen gehören nach Jung in den Begriff der Seele hinein.

  1. Vgl. Krech et. al. (1992a), S. 12
  2. ebd., S. 12
  3. Vgl. Krech et. al. (1992b), S. 35