Die Archetypen des Unbewussten und ihr Konfliktpotential

Das Seelenbild: Das andere Geschlecht als Seelenführer

Die nächste Stufe nach der Integration des Schatten ist die Begegnung mit der archetypischen Figur des Seelenbildes, welches eine deutlich anders geartete Beziehung zum Ich unterhält als der Schatten. Während die Beziehung zwischen Schatten und Ich mit den Begriffspaaren »gut und böse« klassifiziert werden konnte, sind es beim Seelenbild die Attribute »männlich und weiblich«, denn es steht jeweils für den komplementär-geschlechtlichen Anteil unserer Psyche, die Jung beim Mann mit Anima, bei der Frau mit Animus bezeichnet. So wie Kain und Abel eine mythische Manifestation für das Verhältnis von Ich und Schatten sind, wären dies beim Seelenbild etwa Salomo und die Königin von Saba.

Auch das Seelenbild hat einen persönlichen und einen kollektiven Aspekt. Der persönliche Aspekt spiegelt unser persönliches Bild vom anderen Geschlecht als Einzelwesen wider. Im kollektiven Aspekt des Seelenbildes findet sich der Niederschlag gesamtmenschlicher Erfahrung des Gegengeschlechtlichen, also das Bild des Gegengeschlechtlichen als Artwesen. Konkret sind nach Jung jedoch Folgendes die Aufgaben und Eigenschaften des Seelenbildes: Die Anima strebt danach zu vereinigen und trägt das Wesen des Eros. Ihre erste Form äußert sich in spontaner Gefühlsbildung mit einer nachfolgenden Beeinflussung, gar Durcheinanderbringen des Verstandes. Sie projiziert sich mit Vorliebe auf das Leere, Unbewusste, Frigide, Hilflose, Beziehungslose, Dunkle und Zweideutige in der Frau. 1 Während die Anima bestrebt ist zu vereinen, will der Animus unterscheiden und erkennen. Er projiziert sich gern auf geistige Autoritäten oder irgendwie geartete Helden.

Sowohl Anima als auch Animus bestehen jeweils aus zwei Grundformen: Der primitive Aspekt des Seelenbildes trägt negative Vorzeichen und ist sein unausgelebter, kompensatorischer Anteil. Die dunkle Seite einer undifferenzierten Anima äußert sich beispielsweise durch irrationale Launenhaftigkeit des Mannes, der des Animus durch nicht-instinkthaftes Räsonieren und Besserwisserei bei der Frau. Die Äußerungen des undifferenzierten Seelenbild-Anteils sind das, was der Volksmund als »Animosität« bezeichnet. Der differenzierte Teil des Seelenbildes trägt positive Vorzeichen und hat eine schöpferische Funktion. Beim Mann entspricht der helle Teil der Anima der weisen inneren Führerin, die ihn als inspirierende Muse durch kreative Impulse nach vorn treibt.  Bei der Frau äußert sich der lichte Teil des Animus als schöpferisches Wesen in Form des zeugenden Wortes und durch intellektuelle Inspirationen.

Während der Kindheit und der frühen Jugend ist die Anima mit dem Bild der Mutter und ihrer Eigenschaften belegt, der Animus mit dem des Vaters. Ab dem Zeitpunkt der Geschlechtsreife wird das Seelenbild schließlich auf den Partner projiziert, wodurch sich bestenfalls bereits wesentliche Qualitäten des Seelenbildes dem Ich erschließen. Mit fortschreitender Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte wandelt sich die äußerliche Wahrnehmung des Seelenbildes in eine innere. Dies bedeutet für das Individuum einen wesentlichen Schritt in der Überwindung der Kollektivnorm, da das Erschließen des Seelenbildes einhergeht mit einer massiven Veränderung der eigenen Geschlechtsrolle. Während bis zu jenem Zeitpunkt das körperliche Geschlecht in all seinen Aspekten durch die Persona nach außen getragen wurde, ist das Ich nun gefordert, auch gegengeschlechtliche Wesensmerkmale zu integrieren und damit die Gegensatzspannung zwischen Seelenbild und Persona abzubauen. 2 Das Spannungsverhältnis beider Instanzen entsteht durch die jeweilige Funktion, die sie erfüllen. Die Persona bestimmt den habituellen Einstellungstyp eines Menschen und kommuniziert diesen nach außen. Das Seelenbild ist für die komplementäre Kommunikation nach innen verantwortlich, d.h. sie trägt das Wesen des entgegengesetzten (inferioren) Einstellungstyps der Persona. Begegnet beispielsweise ein Extrovertierter seiner Außenwelt durch die primäre Hinwendung auf äußere Gegebenheiten, ist das Seelenbild laut Jung immer intravertiert eingestellt. (Ebenso umgekehrt.)

»Die natürliche Funktion des Animus (sowie auch der Anima) liegt darin, eine Verbindung zwischen dem individuellen Bewusstsein und dem kollektiven Unbewussten herzustellen. In entsprechender Weise stellt die Persona eine Sphäre zwischen dem Ichbewusstsein und den Objekten der äußeren Welt dar. Animus und Anima sollen als eine Brücke oder als Tor zu den Bildern des kollektiven Unbewussten funktionieren, wie die Persona zur Welt eine Art Brücke darstellt.« 3

Aufgrund dieser Funktion als Kommunikator nach innen bezeichnet Jung die Anima auch als »Seelenführerin«, deren überpersönlicher Aspekt die Aufgabe erfüllt, Wandel und Verwandlung der Seele zu leiten und den Mann auf seinem Individuationsweg als weise Führerin zu begleiten. 4

Die Darstellungsweisen von Anima und Animus können ausgesprochen vielfältig sein. So kann sich die Anima in jede beliebige Frauenfigur kleiden oder auch in Tiere und Symbole, denen weibliche Eigenschaften zugeschrieben werden. (Kuh, Höhle etc.) Auch der Animus ist in seinen Erscheinungen vielfältig, nimmt jedoch häufig die Rolle des Führers bzw. einer Autoritätsperson oder eines schöpferisch tätigen Menschen an. Die Phänomenologie des Seelenbildes im Film ist weniger präzise zu umreißen als es beim Schatten der Fall ist. Dennoch lassen sich seine Erscheinungsformen folgendermaßen zusammenfassen: Eine aus Mythen und Märchen bekannte Manifestation der Anima ist das Motiv der entführten oder gefährdeten Prinzessin, die vom Helden befreit oder gerettet werden muss. In Die unendliche Geschichte ist es die Kindliche Kaiserin, die von Bastian vor der Vernichtung gerettet werden muss. Die Kraft, die er aus ihr zieht, erhält er durch die Lehre, die ihm die Kindliche Kaiserin erteilt. Bastian muss seine Fantasie gebrauchen, um Phantásien zu retten und er darf sie künftig gebrauchen, um sich zwischen den zwei Welten der Realität und Phantásien hin und her zu bewegen. Die Kindliche Kaiserin vermittelt hier die typische Anima-Qualität der geistigen Schöpfungskraft und übernimmt die mythische Rolle der Muse.

Eine weitere Erscheinungsform des Seelenbildes ist die des geistigen Führers, wie wir es in Das Schweigen der Lämmer vorfinden. Jack Crawford, Clarice’ Vorgesetzter beim FBI, ist die Projektionsfläche für ihren Animus, der aufgrund ihrer seelischen Verwundung noch nicht völlig vom Vater-Bild befreit ist. Ihr Entschluss, FBI-Agentin zu werden, legt die Vermutung nahe, dass das Fortführen des väterlichen Berufes (Polizist) für Clarice stark motiviert ist durch ihre nicht überwundene innere Verletzung. Ihre Unsicherheit und der Mangel väterlicher Aufmerksamkeit verleitet sie nun dazu, sich durch übersteigerten Ehrgeiz die Anerkennung eines stellvertretenden Vaters zu erkämpfen. Jack Crawford übernimmt als Autoritätsperson und Chef einer großen, respektablen Institution diese Rolle, die in ihren Qualitäten den typischen Animus-Attributen entspricht. Clarice’ innere Entwicklung, die sie durch die Auseinandersetzung mit Buffalo Bill vollzieht, lässt sie schließlich auch die destruktive Bindung an ihren Vater überwinden, woraufhin sie die Projektion ihres Animus auf Crawford beenden kann.

  1. Als Vermittler zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten »liegt beim Animus, dem Wesen des Logos gemäß, der Akzent auf dem Erkennen und dem Verstehen. Es ist mehr der Sinn, den er zu vermitteln hat, als das Bild.« [2. Jacobi 2003, S. 119
  2. An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich Jungs Konzept von der Anima nicht nur bei seinen Gegnern, sondern auch bei seinen Nachfolgern reger Kritik unterziehen musste. So haben einige »Postjungianer« heute die Ausschließlichkeit von Mann/Anima und Frau/Animus zu der Annahme grundsätzlich zweier Geschlechtsarchetypen bei beiden Geschlechtern modifiziert, da die Ausschließlichkeit bei einem gewandelten Rollenbild der Geschlechter nicht mehr haltbar ist. Auch die innere Begegnung mit dem Seelenbild kann heute wohl kaum erst in der zweiten Lebenshälfte beginnen, gerade Karriere-orientierte Frauen müssen sich heute deutlich früher mit ihrem Animus anfreunden. Dennoch muss dem Seelenbild mitsamt seiner konservativ gefärbten Eigenschaften seine psychische Wirklichkeit eingeräumt werden, da sich die über Jahrtausende gewachsene archetypische Struktur der Psyche nicht in den dreißig Jahren vollziehen kann, wie es das geänderte Rollenbild der Geschlechter sukzessive tat. Unter dieser archetypischen Prämisse ist die Charakteristik des Seelenbildes zu verstehen und als solche ist ihre archetypische Kraft für Geschichten nach wie vor relevant.
  3. Jung, GW 8, § 843, zitiert nach Stein, S. 155
  4. Da das Unbewusste laut Jung immer gegengeschlechtlich gefärbt ist, nennt er manchmal auch das gesamte Unbewusste Anima (Animus). Dies ist aber wohl eher seiner stellenweise etwas willkürlichen Begriffsgebung und seiner subjektiven Vorliebe für die Thematik der Anima zuzuschreiben. Entsprechend der überwiegenden Verwendung des Begriffs soll die Anima (der Animus) hier jedoch als ein Archetyp und damit als Teil des Unbewussten verstanden werden.