Zur Bedeutung mythischer Valenzen in populären Medien
Während religiöse Verhaftungen im westlichen Kulturkreis seit der Aufklärung sukzessive weggebrochen sind, ist ein wesentlicher Pfeiler mythischer Lehre aus dem Alltag vieler Menschen verschwunden. Doch damit ist nicht automatisch auch das mythische Denken besiegt worden, wie es die Anhänger der Aufklärung im Sinn hatten und wissenschaftliche Anhänger des Positivismus heute noch im Sinn haben. Vielmehr sucht sich das mythische Denken heute andere, wesentlich besser getarnte Projektionsflächen, um seine Existenz zu behaupten. Der monomythische Film ist dabei nur eine Facette mythischer Alltagskultur. Auch die Werbeindustrie hat die starke Wirkung mythisch aufgeladener Bilder für sich entdeckt und selbst Popidole werden aufgrund ihrer starken mythischen und symbolischen Inszenierung heute zu gottähnlichen Stellvertretern einer »Medienreligion«.
Zwar widmet sich eine Vielzahl wissenschaftlicher Theorien der semantischen Aufladung von Medientexten und attestiert ihnen bisweilen auch mythischen Charakter, doch kaum eine Theorie wagt bislang den Schritt, das fortwährende Rezeptionsbedürfnis dieser mythischen Subtexte zu erklären. Mythische Medientexte als medial repräsentierte Ersatzreligion zu postulieren, kann im Verständnis dieser Arbeit nur eine Übergangslösung sein. Die Suche nach den Gründen für die Unsterblichkeit des mythischen Denkens muss jedoch weiter gehen als bis zu jenem Punkt, da religiöse Bindungen im tiefenpsychologischen Sinne bereits eine konkrete Ausdrucksform dieser tiefer liegenden Ursachen sind.
Eine Theorie von Hartmut Heuermann hat sich der mythischen Tiefenstruktur von Medientexten angenommen und die psychischen Dispositionen der Rezipienten dabei berücksichtigt. 1 Heuermann stellt fest, dass in Kunst und Medien trotz eines weiterentwickelten Zeitgeists regressive Tendenzen zu beobachten sind. In ihnen werden Motive wiederbelebt, die unser aufgeklärter Zeitgeist längst aufgegeben hatte. Diese allgegenwärtigen Tendenzen öffnen sich der wissenschaftlichen Betrachtung laut Heuermann allerdings erst dann, wenn man den Blick nicht nur auf die ästhetische Oberfläche des Werks richtet, sondern sie tiefenstrukturell betrachtet, als Anzeichen seelischer Problemlagen, statt als ästhetische Objekte. 2 Was den geistigen Erben der Aufklärung Sorgen bereitet, entkräftet Heuermann, indem er erläutert, dass eine geistige Rückentwicklung auf ontogenetischer Ebene (erlebbar an den Verläufen psychischer Krankheit) bzw. auf der Ebene einer Kultur (erlebbar z.B. an barbarischen Herrschaftssystemen wie dem Nationalsozialismus) zwar möglich sind, eine evolutionäre Rückentwicklung auf phylogenetischer Ebene allerdings nicht.
»Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Regressionen – global betrachtet – imstande sind, die Bewusstseinsgeschichte zum Stillstand zu bringen oder gar zur Umkehr zu zwingen. Wohl aber gibt es genügend Anzeichen dafür, dass sie störend oder korrigierend in die Geschichte eingreifen und deren kulturelle Ausprägungen verändern können.« 3
Was Heuermann als Regression bezeichnet, darf also keinesfalls im Sinne einer Rückentwicklung verstanden werden. Vielmehr handelt es sich bei dem von ihm beschriebenen Prozess um eine evolutionäre Progression über den Umweg der Regression.
Er untermauert seine Ausführungen mit Neumanns Darstellungen der Bewusstseinsentwicklung und zeigt auf, dass das kollektive Bedürfnis nach medialen Mythen eine natürliche Phase der kollektiven Bewusstseinsentwicklung ist, die nach Erreichen höchster Verstandesstärke notwendigerweise folgen muss. Nachdem sich das aufgeklärte Bewusstsein vom unbewussten Urgrund fast vollständig gelöst hat, keimt das Bedürfnis nach dem paradiesischen Ganzheitszustand wieder auf und macht uns empfänglich für jene Mythen, die uns diesen Zustand suggerieren. Der aufgeklärte Geist hat die Lehren der Bibel zwar als bloße Symbolik enttarnt und sie vorübergehend ihrer Wirkung entmachtet, die latente Suche nach dem Paradies im Alltag entgeht dem übermächtigen Verstand dabei jedoch, da ihn die starke Dichotomie von Bewusstsein und Unbewusstem umso empfänglicher macht für einen Eskapismus ins Mythische.
»Im Prozess menschlicher Selbstwerdung, die jenen schmerzhaften Abschied vom Paradies der Kindheit notwendig macht, der fast immer als konfliktträchtig und krankmachend empfunden wird, gibt es freilich Linderungsmittel – quasi-narkotische Präparate der Kulturindustrie, die nicht therapeutisch, sondern eskapistisch wirken. Es sind Mittel, die die Härte der Lebens-, Berufs- und Arbeitswelt objektiv nicht im geringsten mildern, aber subjektiv die Illusion vermitteln, es gäbe noch irgendwo, irgendwann den Wunschort, den wir verloren haben. Es sind Projektionen, die nicht aus dem eigenen Innern aufsteigen … , sondern von außen bereitgestellt, industriell gefertigt, kollektiv verfügbar gemacht werden – Schonräume der Psyche gewissermaßen, die clevere (oder barmherzige?) Literaten und Regisseure uns einrichten, damit wir dort gelegentlich Zuflucht vor den Drangsalen des Realitätsprinzips nehmen und so tun können, als gäbe es Eden noch, den großen Kindergarten, die herrliche Spielwiese, den beglückenden Ort der Erfüllung.« 4
Der medienwissenschaftlichen Kritik am Eskapismus hält Heuermann entgegen, dass es sich beim Eskapismus und seinen dazugehörigen Projektionen um eine seelisch angelegte Funktion handelt, die von der Kultur- und Medienindustrie lediglich stimuliert wird. 5
Eine Vielzahl mythischer Motive und archaischer Entwicklungsstadien setzt Heuermann mit unseren heutigen Rezeptionsgewohnheiten von medialen Inhalten in Verbindung, unter anderem erläutert er die Wiederbelebung des Animismus in der Medienlandschaft. Als Animismus wird jenes Bewusstseinsstadium verstanden, in dem das Bewusstsein zwar schon herausgebildet, jedoch noch stark vom Unbewussten durchtränkt und mit der Natur verbunden ist. Der animistische Mensch betrachtet alle Lebewesen als miteinander und mit sich selbst verbunden, wobei reale wie eingebildete Lebewesen gleichberechtigt sind. Der Animismus entsteht, indem innere Regungen nach außen projiziert werden, wozu vor allem auch der Glaube an Geister und Dämonen gehört, der sich rudimentär bis in unsere heutige Zeit erhalten hat. Laut Heuermann ist die Faszination für das unsichtbare Böse im Horrorfilm oder im Thriller Ausdruck des Animismus und diese animistische Nische zeigt auf, dass sich im fiktionalen Eskapismus ein archaischer Projektionsprozess vollzieht – vollziehen darf! –, der in der Realität strikt abgelehnt wird und als überwunden gilt.
»Der Kurs mentaler Evolution verläuft tendenziell von projektiven zu introjektiven Erlebnisformen, von Bildvorstellungen zu Gefühlszuständen. Die Ausdrucksmittel ästhetischer Objekte kehren diese Tendenz in vielen Fällen wieder um, weil sie auf eine Kommunikationsfähigkeit zielen, die das rein Subjektive, das ganz und gar Innerliche und Immaterielle, notwendig transzendiert.« 6
Am Beispiel des Animismus bedeutet dies Folgendes: Die guten und bösen Geister entsprechen, in die heutigen psychologischen Kategorien übertragen, endogenen nützlichen und schädlichen Gefühlsregungen, die sich im Geisterglauben zu erkennen geben. Was im Animismus an Gefühlsregungen veräußerlicht wurde, verinnerlicht sich im Laufe der Evolution und wird von den Medien schließlich wieder veräußerlicht, da eben jene Gefühlstände nicht anders objektiviert (d.h. verbalisiert oder visualisiert) werden können. 7 Die erneute Veräußerlichung innerer Gegebenheiten zielt also letztlich auf einen sukzessiven Erkenntnisgewinn ab, der das, was lange im Innern des Menschen verschwunden war, dem nun kritischen Bewusstsein zugänglich macht. Ein populäres Filmbeispiel für die Kraft des Animismus ist Poltergeist 8, in dem die Behauptung übersinnlicher Phänomene kühn in den Raum gestellt und von den Zuschauern mit begierlichem Schauer unhinterfragt »geglaubt« wird. Eine andere ästhetische Spielart des Animismus finden wir beispielsweise in Fellinis Julia und die Geister 9. Julia leidet darunter, in ihrem gesellschaftlichen Umfeld keine selbstbestimmte weibliche Identität entwickelt zu haben. Als ihr Ehemann sie betrügt, schlägt Julias geistiger Zustand in eine Psychose um und wir erleben ihre Entwicklung begleitet von zahlreichen gespenstischen Gestalten, die sie augenscheinlich im Außen immer wieder aufsuchen. 10 Fellini kokettiert mit dem Prinzip des Animismus und lässt die Geister als psychische Projektionen seiner Protagonistin Gestalt annehmen. Zum einen ist Julia und die Geister eine Variante, den Animismus als Rezeptionsprinzip bewusst einzusetzen, zum anderen veranschaulicht uns der Film, wie der Animismus psychologisch funktioniert.
Im kulturpsychologischen Sinne bezeichnet Heuermann die Regression als ein Anzeichen seelischen Leidens an Welt und Wirklichkeit. Die Regressionstendenzen sind als Regulierungsversuche der Psyche zu verstehen, gewisse Defizite im Seelenhaushalt auszugleichen, wenn bestimmte Umstände in der gelebten Kultur im Einzelnen ein Unbehagen verursachen. 11 Die Differenzierung des Bewusstseins führte zu einer kulturellen Spaltung und die Regression ist lediglich Ausdruck des Wunsches, diese Kluft, die die mentale Evolution verursacht hat, zu überbrücken. Der abendländische Mensch (bzw. seine homöostatisch funktionierende Psyche) strebt danach, jene gattungsspezifische Schwäche auszugleichen, die seine mentale Stärke mit sich gebracht hat: »die Dissoziation von Körper und Geist, von naturgebundenen Lebensprozessen und transzendierenden Willens- und Vorstellungsakten, die den Menschen vor wachsende Bewältigungsprobleme stellt.« 12 Als tatsächlich problematisch erweist sich laut Heuermann nicht die Systemtrennung an sich – sie ist evolutionsbedingt –, sondern die gestörte Balance zwischen den Systemen sowie die mangelnde Fähigkeit des modernen Menschen, beide Systeme dem Organismus integrativ dienstbar zu machen. 13
Schlussendlich weist Heuermann allerdings darauf hin, dass die Phase der Regression nur ein Übergang sein darf und statt als kulturelles Therapeutikum eher als Warnsignal für eine kulturelle Entwicklung der Postmoderne betrachtet werden muss, die den Einzelnen seiner seelischen Zersplitterung überlässt.
»Das Heilmittel gegen Zersplitterung und Sinnentleerung – wenn es denn eines gibt – heißt denn auch nicht Regression, sondern Integration. … Gegen die wütenden Fliehkräfte, die an allen Sinnzentren zerren und zunehmend schizoide Formen des Lebens und Bewusstseins schaffen, hilft nur die Gegenkraft einer integrationsfähigen Kultur, die den mörderischen Kurs des galoppierenden Pluralismus aufgibt und sich auf den Weg zur Ganzheit begibt. Diese kann nicht identisch sein mit mythischem Monismus, sondern ist nur herstellbar als eine (bislang) unrealisierte Form des Holismus. Gegen die Entfremdung des Menschen von sich selbst, von seinen Mitmenschen, von der Natur, von seiner Symbolik lässt sich nur ein Kurs steuern, der Wiederannäherung zum Ziel hat.« 14
Heuermanns Fazit ist jedoch keineswegs als Appell zu verstehen, den mythischen Valenzen medialer Alltagskulturen entgegenzusteuern oder sie gar in der Medienproduktion zu meiden. Vielmehr ist sein prospektives Fazit als Hinweis darauf zu verstehen, mythische Medien-Erscheinungen und die ungetrübte Rezeptionsfreude dieser Phänomene seitens des Publikums als einen Ausdruck einer kulturellen Entwicklung zu betrachten, die untrennbar verflochten ist mit einer kollektiven psychischen Entwicklung. Ihr muss im gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs Rechnung getragen werden durch einen erweiterten Blick, der die psychischen Dispositionen des Menschen nicht auf ihre biochemischen Abläufe reduziert, sondern sie in ihrem entwicklungsgeschichtlichen und kulturellen Kontext betrachtet. Ein Diskurs über Mythen und Medien ist, wie in dieser Arbeit ansatzweise deutlich geworden sein sollte, nicht nur ein auf Ästhetik beschränkter, sondern gleichwohl ein anthropologischer, psychologischer und kulturwissenschaftlicher Diskurs. Ebenso wie das Phänomen der mythischen Strukturen im Film nur unter Einbeziehung der Erkenntnisse benachbarter Disziplinen beleuchtet werden kann, kann auch ein umfassenderer Diskurs über ihre Bedeutung in den Medien immer nur mit erweitertem interdisziplinären Blick und einem gewissen Wagemut vonstatten gehen, der die Paradigmen der positivistischen Wissenschaften hinter sich lässt.
- Hartmut Heuermann (1994): Medienkultur und Mythen. Reinbeck. ↩
- Ebd., S. 9 f ↩
- Ebd., S. 52 ↩
- Ebd., S. 90 ↩
- Vgl. ebd., S. 92 ↩
- Ebd., S. 157 ↩
- Vgl. ebd., S. 157 ↩
- Regie: Tobe Hooper (1982) ↩
- Regie: Federico Fellini (1965) ↩
- Vgl. Pautsch 2005, S. 21 ↩
- Vgl. Heuermann 1994, S. 274 ↩
- Ebd., S. 275 ↩
- Vgl. ebd., S. 285 ↩
- Ebd., S. 290 ↩