Die Archetypen des Unbewussten und ihr Konfliktpotential

Die Begegnung mit den Archetypen vollzieht sich zwar in jedem Stadium des Lebens, jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. Bis zur Lebensmitte begegnen sie dem Individuum in sehr eindeutiger Gestalt, da die Entwicklung des Ich ein Prozess ist, der wenig individuelle Züge trägt. Zudem werden die Archetypen bis dahin überwiegend im Außen wahrgenommen, wo sie klare, kollektiv gleich bleibende Entwicklungsschritte initiieren. Mit Erreichen des Lebenszenits bekommen die Archetypen für das Individuum eine neue Bedeutung, die nun stark individuell geprägt ist. Sie begegnen dem Menschen nun nicht mehr im Außen, sondern machen sich überwiegend innerlich bemerkbar und konfrontieren das Ich mit höchst individuell ausgeprägten Persönlichkeitsmerkmalen, die bis dahin ohne Beachtung blieben. Trotz individueller Ausprägung enthalten die Archetypen in ihrer Ganzheit ein kollektives Bündel von Eigenschaften, deren Integration in das Bewusstseinsfeld des Ich nun gefordert ist. Die Archetypen, so wie Jung sie klassifiziert hat, enthalten jeder für sich ein allgemein menschliches Spektrum denkbarer Wesenszüge, die somit auch für jeden denkbaren Konflikt die Grundlage bilden. Alle intrapersonalen, interpersonalen oder gesellschaftlichen Konflikte können auf die Beschaffenheit der Archetypen zurückgeführt werden. Die im Folgenden vorgestellten Archetypen entsprechen der größtmöglichen Einteilung in Persönlichkeitsinstanzen, aus denen sich jedoch im Verlauf des Lebens unzählige weitere Archetypen konstellieren können.

Die Auseinandersetzung mit den Archetypen folgt immer einem einheitlichen Ziel, nämlich der Überwindung der Gegensatzspannung, die nicht nur zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, sondern auch zwischen einzelnen Persönlichkeitsinstanzen vorherrscht. Um sich die Gegensatzpaarung und den Weg ihrer Vereinigung vorstellen zu können, ist es hilfreich, sich ein Bild vom Aufbau der Psyche zu machen, so wie sie sich Jung zur Grundlage nahm:

Abb. 5 – Die Totalpsyche

Abb. 5 – Die Totalpsyche

Die Grafik zeigt eine vollständig individuierte Psyche, in der das Selbst als Zentrum herausgebildet ist, wobei alle Archetypen mit dem Selbst und über das Selbst mit dem Bewusstsein verbunden sind. Die Gegensatzspannung ist in obiger Abbildung durch die vollständig erreichte Selbst-Zentrierung zwar überwunden, die Gegensatzpaare bleiben allerdings erkenntlich: Zuallererst findet sich eine Spannung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, weiterhin zwischen Persona und Seelenbild (Anima/Animus) sowie zwischen Ich und Schatten. Im Laufe der Individuation begegnet der Mensch diesen Anteilen in einer bestimmten Reihenfolge, wobei die Auseinandersetzung mit dem äußerlichsten Archetyp, der Persona 1 , beginnt und dann immer weiter bis zum Kern der Psyche, dem Selbst, vordringt. Die Ganzheit der Persönlichkeit ist dann erreicht, wenn die Haupt-gegensatzpaare relativ differenziert sind und zum Bewusstsein eine lebhafte Beziehung unterhalten. Dies geschieht bei jedem Gegensatzpaar in zwei Stufen: Auf der ersten Stufe erfolgt die Differenzierung, also die Bewusstmachung dieser bis dahin unbewusst wirkenden psychischen Inhalte. Daraufhin kann Integration ins Bewusstsein erfolgen, d.h. die Akzeptanz dieser Inhalte, woraufhin sich ein lebendiger Bezug zwischen dem Ich und den archetypischen Anteilen des Unbewussten einstellt.

Im Folgenden sollen die bedeutendsten Archetypen, die in diesem Entwicklungsprozess eine Rolle spielen, kurz vorgestellt werden. Diese Auswahl bedeutet jedoch nicht, dass sich die Zahl der Archetypen im Individuationsprozess auf jene Anteile beschränkt. Vielmehr sind die folgenden Archetypen als Archetypen-Komplexe 2 zu verstehen, aus denen im Laufe der Entwicklung weitere konkrete Archetypen hervortreten können.

  1. Sie ist unsere Maske, die wir der Außenwelt präsentieren, um uns deren Normen entsprechend zu verhalten. Zwar kann auch sie zu zahlreichen Konflikten führen (z.B. Standeskonflikte), da sich ihr eigenes Konfliktpotential jedoch auf einen relativ engen Rahmen eingrenzen lässt, bleibt sie in dieser Arbeit aus Platzgründen unberücksichtigt.
  2. »Komplex« ist in diesem Zusammenhang umgangssprachlich zu verstehen und nicht etwa mit Jungs Begriff des Komplexes zu verwechseln.