Der Begriff des Archetyps
Heute wird der Begriff des Archetyps, des »Urbildes« 1, häufig sehr lapidar verwendet, wenn es nötig wird, urtümliche Erscheinungen zu bezeichnen. Häufig wird er dabei jedoch seiner philosophischen Tradition enthoben und bezeichnet dann etwas, was mit dem Begriff des Prototyps treffender erfasst wäre.
Seinen Ursprung hat der Begriff bei den antiken Philosophen, bei denen er im Wesentlichen ein Urbild im Göttlichen bezeichnete, aus dem das Leben als dessen Abbild erwächst. Jegliche antike Überlegungen über Archetypen dienten dem Verständnis der kosmischen Ordnung, so wurden Urbilder stets als einem universellen System zugehörig betrachtet. Im Corpus Hermeticum wird Gott selbst als »das archetypische Licht« bezeichnet. Auch wenn er den Begriff selbst nicht verwendete, findet sich die Vorstellung der Archetypen auch bei Augustinus: »Ideen, die selbst nicht geformt sind … die enthalten sind im göttlichen Wissen« 2 Der wichtigste Vertreter der antiken Philosophen im Hinblick auf den Archetypen-Begriff ist Plato, dessen Begriff der Idee (gr. eidos) jenem Urbild entspricht, das jedem konkreten Gedanken innewohnt. Er ging davon aus, dass die originären Ideen hinter den menschlichen Gedanken präexistent sind und sowohl den Geist des Menschen als auch jenen Gottes durchdringen. Diese Archetypen sind unveränderlich und liegen als ursprüngliche Qualitäten allem zugrunde. Dennoch können ihnen die konkreten Gedanken immer nur unvollständig entsprechen. 3 Eine ähnliche Vorstellung findet sich später auch beim Anthropologen Lévy-Bruhl, der jenes Prinzip der Archetypen mit représentations collectives bezeichnen. Sie umfassen nicht nur die symbolischen Figuren archaischer Weltanschauungen, sondern vor allem auch deren dazugehörigen unbewussten Inhalt. Damit wurde Lévy-Bruhl zu einem bedeutenden Wegbereiter für Jungs Archetypenbegriff, da er die einst göttlichen Urbilder als im Menschen selbst repräsentiert auffasste. 4 Ein weiterer, heute noch äußerst gängiger Archetypen-Begriff findet sich beim Religionsforscher Eliade, der Archetypen als jene frühzeitlich »offenbarten« und transzendenten Paradigmen bezeichnet, die im Verständnis archaischer Gesellschaften jeder Handlung zugrunde lagen. 5
Dennoch ist Jungs Archetypen-Begriff heute unzweifelhaft der am meisten verbreitete. Dies mag darin begründet liegen, dass seine Ausführungen und Forschungen dazu in ihrer Komplexität viele Archetypen-Konzepte seiner Vorgänger einschließt und sie mit biologischen Überlegungen verknüpft. Als patterns of behaviour sind die Archetypen nach Jung zum einen biologisch zu erklären, können aus tiefenpsychologischer Sicht mittels ihrer Emanationen in der kulturellen Außenwelt aber auch religiöse, mythologische und psychologische Fragestellungen bedienen. Jungs Begriff von Archetypen, der in den vorangegangenen Teilen der Arbeit hinlänglich erläutert wurde, soll auch weiterhin Verwendung finden, wobei es nicht zu verhindern ist, dass auch seine umständliche, oft widersprüchlich anmutende Definition der Archetypen in dieser Arbeit ein eigen-ständiges Profil erhält. Auch wenn Jungs Begriffsdefinition detailreicher und umfassender kaum sein kann, hat wohl seine Nachfolger kaum ein Begriff mehr zu Diskussionen angeregt als jener der Archetypen. In dieser Arbeit seien Archetypen verstanden als die strukturelle psychische Anlage zur Individuation, die sich in konkreten symbolischen Inhalten zum Zweck der Entwicklung äußerlich und innerlich manifestieren kann.