Konsequenzen für die Filmgestaltung

Ein Vergleich von Stereotypen und Archetypen ist insofern nicht unproblematisch, als es sich hier um Konzepte aus gänzlich unterschiedlichen psychologischen Schulen handelt. Da sich ihre jeweilige Wirkung im Film jedoch aufzeigen lässt, ist es legitim, einen Vergleich beider Begriffe zu wagen. Die bis hierhin zusammengetragenen Merkmale von Stereotypen und Archetypen lassen sich folgendermaßen gegenüberstellen:

Stereotypen Archetypen
Sie basieren auf kultureller Lerner-
fahrung. Sie sind angeborene psychische 
Strukturelemente.
Sie werden zwar weitestgehend 
kollektiv getragen, sind jedoch nicht 
universell und können so in unter-
schiedlichen Gruppen und Kulturen 
von einander abweichen. Sie enthalten die im Laufe der Evolution entstandenen Dispositionen zur menschlichen Entwicklung und sind daher universell.
Sie sind Eigenschaftsträger, die durch Konventionalisierung beobachteter 
Inhalte entstehen. Sie sind Funktionsträger, die erst dann inhaltlich bestimmbar sind, wenn sie sich zu einem bestimmten Entwicklungszweck äußerlich manifestieren.
Sie existieren Kontext-unabhängig 
und autonom. Als Strukturelemente sind sie immer Teil eines Gesamtsystems.

Aus dem Vergleich lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass es sich bei Archetypen und Stereotypen um entgegengesetzte Konzepte handelt, deren jeweilige Eigenschaften sich durch einen wesentlichen Unterschied herausbilden: Während Archetypen natürlich determiniert sind, sind Stereotypen kulturell bestimmt.

Schließlich muss ein weiteres Wesensmerkmal der Archetypen berücksichtigt werden, das sie von Stereotypen unterscheidet und ihre wesentlich umfassendere Bedeutung veranschaulicht. Denn im Gegensatz zu Stereotypen wirken Archetypen als unbewusste Kräfte auf allen drei Ebenen der analytischen Filmbetrachtung:

Abb. 14 – Wirkungsachse der Archetypen

Abb. 13 – Wirkungsachse der Archetypen

  1. Als psychische Kräfte motivieren sie den kreativen Schöpfungsprozess und setzen die Imagination des Autors in Gang, die nun die Inhalte der Archetypen in symbolische Formen kleidet.
  2. Auf der Ebene des Werks schaffen diese symbolischen Formen ein strukturelles Abbild der menschlichen Psyche in Form eines filmischen Konfliktgefüges.
  3. Im Zuschauer wirken die symbolischen Erscheinungen des Films unbewusst, indem sie eine Korrespondenz mit den archetypischen Kräften des Zuschauers erzeugen. Ebenso wie jene symbolischen Äußerungen, die der Zuschauer in Träumen und Fantasien selbst erzeugt, können auch die von außen an ihn herangetragenen Erscheinungen eine emotionale bis numinose Wirkung erzielen.

In dieser Wirkungsachse mag die grundlegendste Kraft der Archetypen begründet liegen und damit letztlich das Geheimnis der mythischen Filmwirkung. Nachweisen lässt sich dies freilich nur schwer, da sich das unbewusste Wesen der Archetypen einer empirischen Untersuchung anhand allgemein anerkannter Verfahren entzieht. Nimmt man sie jedoch als gegeben an, lassen sich folgende Schlussfolgerungen zur Wirkungsweise der Archetypen im Vergleich mit Stereotypen ziehen:

Im PKS-Modell nach Wuss müssten die Archetypen auf einer übergeordneten Ebene angesiedelt werden, da sie alle drei von Wuss beschriebenen Ebenen tangieren. Zum einen wirken Archetypen perzeptiv, da wir ihrer Erscheinungen nicht gewahr werden, sie uns aber dennoch das umfassende Verständnis des Films ermöglichen. Da sich Archetypen im Optimalfall nicht in einer einzigen Figur an einer bestimmten Stelle des Films manifestieren, sondern sich als latentes Konfliktfeld durch den gesamten Film ziehen, führen sie sukzessive zur Bildung von Schemata (im Wuss’schen Sinne), die uns einen Zugang zum jeweiligen Konfliktfeld auf mehreren Ebenen eröffnen. Als treibende Kräfte für Konflikt und Handlung bestimmen die Archetypen wesentlich die kausale Kette, indem die Auseinandersetzung des Protagonisten mit den Archetypen und letztlich die Überwindung der Gegensätze vom Zuschauer vor allem kognitiv nachvollzogen werden. Kulturell konventionalisierte Symbole, die archetypisch motiviert sind, können sich schließlich auch in stereotyper Form äußern, wobei nicht jeder Stereotyp gleichzeitig eine archetypische Grundlage hat. Die archetypische Manifestation in konventionalisierten Symbolen ist nur gegeben, wenn die stereotype Erscheinung eine archetypische Funktion bekleidet. Aufgrund der oben konstatierten Gegensätzlichkeit von Archetypen und Stereotypen ist anzunehmen, dass sich die Stereotypisierung von archetypischen Erscheinungen in Form von bestimmten Genre-Konventionen auf den mythischen Gehalt eines Werks auswirkt. Doch dieser These soll im anschließenden Kapitel nachgegangen werden.

Im Hinblick auf die oftmals geheimnisvolle Aufforderung der Drehbuch-Ratgeber, archetypische Figuren zu entwickeln, liegt der Schluss nahe, dass hier Äpfel mit Birnen verwechselt werden, bzw. die Instrumentalisierung der Archetypen überschätzt wird. Denn selbst wenn, wie Linda Seger empfiehlt, eine Figur aus ihrer Eindimensionalität befreit wird und einen facettenreichen, plastischen Charakter erhält, wird sie nicht automatisch zu einer archetypischen Emanation, die eine Geschichte um eine mythische Ebene bereichert. Um Archetypen in einer Geschichte wirken zu lassen, ist es zusätzlich nötig, die Geschichte als ein psychologisches Gesamtsystem zu erfassen und den mehrdimensionalen Figuren Funktionen zu verleihen, die sie im Sinne der Gegensatzvereinigung ausfüllen. Wann immer man von Archetypen in einem Film spricht, muss ihr Bezug zum Gesamtsystem hergestellt werden, dessen Größen im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich erläutert wurden.