Zum Begriff der Archetypen und ihrer Bedeutung für die Geschichtenentwicklung

Die Unterscheidung von Archetypen und Stereotypen zieht sich durch die gesamte Drehbuch-Literatur und belehrt Autoren durchgängig mit dem Hinweis, stereotype Figuren und Handlungen seien zu meiden, archetypische hingegen seien anzustreben. Doch während in aller Regel erläutert wird, was eine stereotype Gestaltung ausmacht, wird das Wesen der Archetypen in keinem der geläufigsten Drehbuch-Ratgeber hinreichend beschrieben.

Linda Seger warnt vor Stereotypen, da sie einen negativen Effekt auf Zuschauer haben, indem Zuschauer dazu angehalten werden, die Merkmale einer stereotypen Figur auf eine reale Gruppe von Menschen zu übertragen:

»Ein Stereotyp lässt sich definieren als die Darstellung einer Gruppe von Menschen mit einer Reihe von unveränderlichen und undifferenzierten Merkmalen. In der Regel ist ein Stereotyp negativ. Er erkennt nur die Besonderheiten der eigenen Kultur an und zeichnet Figuren außerhalb dieser Kultur auf beschränkte, oft entwürdigende Weise.« 1

Den Stereotypen stellt sie den Begriff der Figurentypen gegenüber, den sie jedoch nur unzureichend erläutert. Nach Seger ist es anzustreben, einen kulturellen und sozialen Querschnitt der Gesellschaft im Film wiederzugeben, ohne Minderheiten auf eine Hand voll pauschalisierter Eigenschaften zu reduzieren. Insgesamt ist ihre Forderung nach nicht-stereotypen Figuren vor allem durch politische Korrektheit motiviert, dennoch weist sie darauf hin, dass sich stereotype Figuren im Gegensatz zu nicht-stereotypen durch Eindimensionalität und mangelnden psychologischen Tiefgang auszeichnen. Nicht-stereotype Figuren lassen sich laut Seger an vier Merkmalen festmachen:

  1. Sie sind mehrdimensional.
  2. Sie spiegeln einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft wider. (Bezüglich Alter, Geschlecht, sozioökonomischen Aspekten etc.)
  3. Sie bringen die Geschichte durch Ansichten, Verhaltensweisen und ein Ziel voran und beeinflussen damit ihren Ausgang.
  4. Sie spiegeln ihre Kultur wider und liefern aufgrund ihres Hintergrunds neue Einsichten und Vorbilder. 2

Robert McKee verfolgt ein ähnliches Ziel wie Linda Seger, jedoch macht er dies weniger an der stereotypen Figurengestaltung fest als vielmehr an der Geschichte selbst:

»Die archetypische Story bringt eine universale menschliche Erfahrung ans Licht und findet dann einen einmaligen, kulturspezifischen Ausdruck. Eine stereotype Story kehrt dieses Schema um: Sie krankt an der Dürftigkeit sowohl des Inhalts als auch der Form. Sie beschränkt sie auf eine begrenzte, kulturspezifische Erfahrung und drückt sich in schalen, unspezifischen Gemeinplätzen aus.« 3

McKee macht seine Vorstellung einer archetypischen Geschichte generell wenig an Figuren fest, sondern führt stattdessen den sog. Archeplot ins Feld, der nichts weiter ist als das antike Strukturschema der aristotelischen Poetik 4. Bereits in der Poetik wird eine Grundsatzfrage thematisiert, die sich seit dem durch die Dramaturgie zieht: Sind die Figuren oder der Plot wichtiger für eine Geschichte? Aristoteles favorisierte bereits den Plot und ordnete ihm die Figurengestaltung unter, McKee folgt seiner Tradition. Nicht nur unter dem Aspekt der Archetypen liegt hierin bereits ein Widerspruch, der mitnichten dazu beitragen kann, eine stereotype Gestaltung aufzulösen. Denn das strukturelle Dogma des »Archeplot« kann ebenso mit stereotypen Figuren ausgefüllt werden, wodurch wiederum keine archetypische Geschichte, so wie McKee sie definiert, erzielt werden kann. Eine nicht-stereotype Geschichte kann also immer nur aus den Figuren heraus entwickelt werden, der Plot ist ihrer Charakterisierung untergeordnet. Obwohl McKees oben zitierte Unterscheidung von archetypischer und stereotyper Geschich-te hilfreich ist, muss der Blick für eine präzise Unterscheidung sowohl auf die Figuren als auch auf die Struktur einer Geschichte gerichtet werden.

Peter Wuss unterscheidet sich von der populärwissenschaftlichen Drehbuch-Literatur, indem er zum einen zwar die Wirkmomente filmischer Werke auf mehreren Ebenen aus kognitionspsychologischer Sicht beleuchtet, dabei aber stereotype Gestaltungsformen mit Archetypen und Mythos gleichsetzt. Was Wuss als Stereotypen bezeichnet, bezieht sich dabei weniger auf die Gestaltung einzelner Figuren, sondern vielmehr auf Genrekonventionen. Wuss unterscheidet drei Gestaltungs- und Wirkungsebenen von Filmen: Perzeptionsgeleitete Strukturen, die sog. Topik-Reihen, vermitteln dem Zuschauer unbewusst wahrnehmbare Gestaltungselemente, die im Verlauf des Films zu einer unbewussten Schemabildung führen. Konzeptgeleitete Strukturen, die sog. Kausalketten, werden bewusst wahrgenommen und lassen den Zuschauer die Handlung des Films kognitiv nachvollziehen. Stereotypengeleitete Strukturen hingegen werden unbewusst wahrgenommen, im Gegensatz zu den perzeptionsgeleiteten Strukturen, bei denen die Schemabildung erst während der Filmbetrachtung erfolgt, ist hier die Konzeptualisierung der Stereotypen bereits vollzogen:

Bei den Stereotypen handelt es sich um »Gestaltungsformen in einer Spätphase der Aneignung, in der sie längst konzeptualisiert sind, jedoch durch vielfachen kommunikativen Gebrauch ihr Auffälligkeitsmaximum längst überschritten haben und vom Zuschauer aufgrund von Gewöhnung nur noch beiläufig und oft nahezu unbewusst aufgenommen werden. Wenn diese Reizkonfiguration dem Zuschauer in einem Film begegnet, ist ihre Formgestalt und die damit verknüpften Inhalte, Emotionen, Wertungen im Dauergedächtnis des einzelnen und oft einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe gespeichert, ihr Informationswert ist aber inzwischen gering.« 5

Wuss selbst setzt die Stereotypen mit Archetypen gleich, wobei er sich in seinen Ausführungen zwar explizit auf Jung bezieht, ihn jedoch nur fragmentarisch und damit missverständlich heranzieht. Über filmische Archetypen schreibt Wuss Folgendes:

»Da potentiell jede Strukturbeziehung einer Filmkomposition dieses Stadium zu erreichen vermag, können filmische Stereotypen in verschiedenster Form auftreten, als mythische Stoffe, konventionalisierte Handlungsmuster, standardisierte Konflikte, typisierte Figuren, aber auch als elementare Situationen und Bilder, die ich als filmische Archetypen bezeichnen möchte.« 6

Inwiefern Genrekonventionen im Speziellen archetypische Inhalte enthalten, wird im anschließenden Kapitel näher untersucht werden. Zunächst einmal soll geklärt werden, inwiefern sich Stereotypen und Archetypen in ihrem Wesen unterscheiden und welche Konsequenzen dies für die filmische Gestaltung hat. Hierzu empfiehlt es sich, die Begriffe Stereotyp und Archetyp in ihrem jeweiligen wissenschaftlichen Kontext genauer zu beleuchten und schließlich gegenüberzustellen.

  1. Seger 1990, S. 215
  2. Vgl. ebd., S. 223 f
  3. McKee 2001, S. 11
  4. Aristoteles (2002): Poetik. Stuttgart.
  5. Wuss 1998, S. 105
  6. Ebd., S. 105