Phänomenologie der Heldenreise in ausgewählten Genres

Das Melodrama

Das Melodrama hat seinen Ursprung im Theater und erweist sich in seinen Konventionen als eines der beständigsten Genres, das sich gesellschaftlichen Umwandlungen kurzerhand anpasst. Dabei ist seine Verknüpfung mit einem gesellschaftlichen Kontext maßgeblich, da sich sein Hauptkonfliktfeld aus konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen generiert. Im Zentrum des Melodramas steht häufig ein Tabu, eine moralische Ungereimtheit, bzw. die Diskrepanz zwischen individuellen Lebenskonzepten und gesellschaftlichen Normen. Dennoch ist das Melodrama kein gesellschaftspolitisches Programm, das weltanschauliche Systeme propagieren will. »Es versucht, hinter den Sozialrollen und ideologischen Masken seines Personals die menschliche Substanz zu entdecken und zu begreifen.« 1 Einer der größten melodramatischen Klassiker ist wohl Vom Winde verweht 2, aber auch moderne Produktionen wie Das Piano 3 oder High Heels 4 lassen sich diesem Genre zuordnen.

Im Zentrum des Melodramas steht häufig eine Heldin, die sich im Spannungsfeld zwischen zwei männlichen Mitstreitern bewegt. Einer von ihnen begegnet ihr als beharrende Kraft, der andere als jene Kraft, die über einen Leidensweg die Heldin in einen ausgeglichenen emotionalen Zustand führt. 5 Zwar ist diese Konstellation nicht bindend, in dieser Konvention finden sich jedoch die Qualitäten von Schatten und Seelenbild wieder, die für eine ihnen zugehörige Auseinandersetzung verantwortlich sind. Zu Beginn der Geschichte steht in aller Regel der Verlust eines ausgeglichenen, stabilen Zustands, der durch ein schicksalhaftes Ereignis herbeigeführt wird. Während die Heldin bestrebt ist, ihren alten Zustand wiederzuerlangen, wird sie nach dem äußersten Ereignis der Katastrophe begreifen, dass dies unmöglich ist und ihr Weg zurück ins Glück nur über die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches führt.

Drei dramaturgische Merkmale schreiben Kinder und Wieck dem Melodrama zu: 1) Der melodramatische Schock ist der jähe Zusammenbruch einer stabilen Lebenslage, der die Heldin in eine unglückliche Grenzsituation stürzt. 2) Der melodramatische Skandal ist ein Mittel, dessen sich die Heldin häufig bedienen muss, um ihr Dilemma zu lösen. Hierbei handelt es sich beispielsweise um einen Tabubruch, der als unausweichliches Mittel erscheint, um das verlorene Glück wiederherzustellen. 3) Die melodramatische Zeit ist eine Eigenheit des Genres, durch die das subjektive Zeitempfinden des Protagonisten als stilistisches Mittel in der Filmzeit ausgedrückt wird. 6

Generell handelt es sich beim Melodrama vor allem um einen emotionalen Entwicklungsweg, der sich vorrangig im Innern der Heldin vollzieht. Wo in anderen Genres die Wendepunkte des Films immer näher zum Ziel führen, bestehen sie im Melodrama aus Gefühlsumschwüngen der Heldin, die sie immer wieder an die Grenze ihrer Belastbarkeit bringen. Der Hauptkonflikt pendelt dabei zwischen einem Defizit der Heldin und ihrem Wunsch nach einem ausgeglichenen Gefühlshaushalt. 7 Die antagonistische Kraft muss dabei nicht in einem typischen »Bösewicht« manifestiert sein, sondern kann auch durch einen äußeren Umstand auftreten wie z.B. eine tödliche Krankheit. Dennoch weisen Kinder und Wieck darauf hin, dass ein diffuses Konfliktfeld noch keinen Antagonisten generiert. Daher bedarf es eines ambivalenten Gegenspielers, der die Heldin durch seinen widersprüchlichen Charakter, bestehend aus liebenswerten und verabscheuungswürdigen Seiten, in einen Zwiespalt bringt. 8 Während z.B. im Abenteuerfilm oder im Horrorfilm die Qualitäten von Gut und Böse klar verteilt sind und ihren Helden das Entscheiden leicht machen, muss die melodramatische Heldin stets zwischen Ambivalenzen abwägen. Ihre Entscheidungen fallen nicht zwischen Gut und Böse, sondern zwischen Besser und Schlechter, was unweigerlich eine Opferbereitschaft von ihr verlangt.

Der Mythos, der dem Melodrama zugrunde liegt, ist im westlichen Kulturkreis laut Kinder und Wieck die Passionsgeschichte:

»Das Melodrama erzählt eine der großen Menschheitsgeschichten. Das ist die Leidensgeschichte. Zugleich erzählt es die Geschichte einer möglichen Versöhnung dieser antagonistischen Strebungen. Das ist die Heilsgeschichte. Zum dritten erzählt das Melodrama diese urchristlich orientierte Geschichte als jederzeit denkbare und wiederholbare Gegenwartsgeschichte.« 9

Ein wesentliches Charakteristikum melodramatischer Filme ist die Botschaft, dass die Welt nicht zu ändern ist. Um sein Schicksal zu bewältigen, muss sich der Held selbst ändern, um den emotional folgenreichen Mangel auszugleichen, den ein schicksalhafter Verlust mit sich gebracht hat. Das, was der Held verloren hat, kann er zwar nicht wiedererlangen, doch durch zahlreiche Opfer, die er durch stetiges Abwägen von Konsequenzen bringen muss, kann er einen neuen Zustand der Glückseligkeit und Selbstverwirklichung erreichen und wird erleben, wie sich die Wertbesetzungen von Gut und Böse, Hass und Liebe, Krieg und Frieden in ihr Gegenteil verkehrt haben.

Was wir in der Dramaturgie des Melodramas erleben, ist ein typisches Beispiel für die innere Reise des Helden. Das äußerliche Abenteuer steht dabei deutlich hinter den inneren Prozessen der Figuren zurück. Die Konventionen des Melodramas sind im Vergleich zu anderen Genres insofern ein Ausnahmefall, als die psychologische Komponente hier von vornherein zum dramaturgischen Genre-Kanon gehört. Die dramaturgischen Konventionen des Melodramas sind dem Zuschauer wohlbekannt, sodass er in aller Regel den Ausgang der Geschichte antizipieren kann. Doch im Weg dorthin liegt die eigentliche Kraft des Melodramas. Dieser ist immer individueller Natur, sodass er den Zuschauer trotz Happy End-Erwartung emotional einbindet. Der individuelle emotionale Weg des melodramatischen Helden, der nur bis zu einem gewissen Grad konventionalisierbar ist, mag ein Grund dafür sein, dass sich dieses Genre als eines der beständigsten bewährt hat.

  1. Kinder und Wieck 2001, S. 52
  2. Regie: Victor Fleming (1939)
  3. Regie: Jane Campion (1992)
  4. Regie: Pedro Almodóvar (1991)
  5. Vgl. Kinder und Wieck 2001., S. 94
  6. Vgl. ebd., S. 43 ff
  7. Vgl. ebd., S. 94
  8. Vgl. ebd., S. 95
  9. Ebd., S. 40