Phänomenologie der Heldenreise in ausgewählten Genres

Der Thriller

Wie seine Verwandten Horror- und Fantasy-Film hat der Thriller seinen Ursprung nicht in der dramatischen, sondern in der erzählenden Literatur. 1 Alle drei Grusel-Genres arbeiten mit den Grundängsten des Menschen: Angst vor dem Tod, Angst vor Entfremdung, Existenzangst etc. Die Furcht entsteht hier stets durch das Unbekannte, das den sicheren Zustand der Existenz bedroht. 2

Im Thriller ist der Protagonist Opfer und Held zugleich. In aller Regel handelt es sich um einen unbescholtenen Bürger, der nur durch einen unbedeutenden Fehltritt in das Visier der antagonistischen Kräfte gerät, die ihn um sein Leben bringen wollen. Das Böse zeigt sich im Thriller in realen Gefahren, die zwar sensationalisiert dargestellt werden, aber theoretisch jeden ereilen könnten. Abgesehen von Subgenres wie dem Psychothriller, handelt es sich hierbei um verschwörerische Mächte wie Geheimdienste, Verbrecherkartelle, machtbesessene Geheimbünde o.ä. In Copykill 3 beispielsweise wird eine Kriminal-Psychologin zur Zielscheibe eines Psychopathen. Ein Anwalt, der lediglich seinen Job erledigt und dabei zu viel erfährt, wird kurzerhand zum Staatsfeind Nr. 1 4. Die Motivation des Antagonisten liegt in der Erfüllung eines Auftrags, der die Auslöschung des Protagonisten vorsieht oder zumindest einschließt.

Bereits in der Exposition wird klar, wen der Antagonist töten will und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er dies erreichen wird. Die Überlebenschancen des Protagonisten sind von vornherein gering. Unmittelbar nachdem ihn das Böse auserwählt hat, wird er in eine Isolation versetzt, die ihn von jeder äußeren Hilfe abschneidet. Dies muss nicht durch das Betreten einer örtlich anderen Welt geschehen, sondern entscheidend für die »andere Welt« sind die anderen Regeln dieser Welt, die der Protagonist nun erlernen muss. Die Interaktion zwischen Protagonist und Antagonist gleicht in allen drei Grusel-Genres einem tödlichen Spiel, dessen Regeln klar gesetzt sind. Zug um Zug werden nun Gewinner und Verlierer ausgelotet. Das Spiel kann sich dabei durchaus in der Alltagswelt abspielen, deren gewohnte Regeln nun außer Kraft gesetzt sind. Während der Antagonist die Regeln der anderen Welt beherrscht, muss der Protagonist sie erst erlernen, um sein Überleben zu sichern.

Obwohl der Thriller-Held auf eine völlig andere Weise in die Geschichte hineingezogen wird als dies im Melodrama der Fall ist, hat auch er eine Prädisposition, die zur Grundlage seines Lernprozesses wird. Da er nicht durch einen inneren Impuls zu seinem Abenteuer gedrängt wird, sondern ein bloßes Opfer des Zufalls wird, steht nicht ein klares Defizit im Zentrum seiner Entwicklung (wobei es durchaus vorhanden sein kann). »Jedoch werden die extremen Erfahrungen, die er machen wird, die Konfrontation mit dem eigenen Tod, ihn in die Lage versetzen, die ursprünglichen Schwächen in Stärken zu verwandeln.« 5 Hat er die nötigen Fähigkeiten erlangt und das Spiel verstanden, kommt es im Mittelteil zu einer entscheidenden Wendung und der Jäger wird zum Gejagten. Zum Ende sieht sich der Protagonist in aller Regel noch einmal mit einer finalen Entscheidung konfrontiert, die auf den Regeln der anderen Welt basiert. Fällt er sie richtig, kommt er mit dem Leben davon und sowohl ihm als auch dem Zuschauer wird die Botschaft des Thrillers klar: Diesmal ging es noch gut, aber das Grauen kann sich jederzeit wiederholen.

Der Duktus der mythischen Reise des Thriller-Helden ist im Vergleich zum Melodrama in seinen symbolischen Botschaften weitaus rigoroser. Während das Schicksal des melodramatischen Helden stark durch die individuelle psychische Konstitution des Helden geprägt ist, ist das Schicksal des Thriller-Helden augenscheinlich durch den Zufall bestimmt. Über der mythischen Botschaft der Gegensatzvereinigung schwebt daher immer eine Vorwarnung: Es kann jeden treffen, einen sicheren Schutz vor den Mächten der Unterwelt gibt es nicht. Die antagonistischen Kräfte bilden im Thriller einen wesentlich deutlicheren Gegenpol und fordern den Helden dazu auf, sich mit seinen Urängsten auseinanderzusetzen und sie zu überwinden. Das tiefenpsychologische Wissen, das hinter der symbolischen Fassade des Thrillers steckt, referiert auf die eigene Regelhaftigkeit des Unbewussten, die sich uns nur in einer zumeist unangenehmen Konfrontation erschließt. Dass den Thriller-Helden der Zufall überrascht, ist für diese unverblümte mythische Lehre maßgeblich, weist dieser Umstand doch darauf hin, dass der Konfrontationsprozess mit den abgespaltenen Mächten nicht der Freiwilligkeit des Bewusstseins obliegt. Selbst wenn sich das bewusste Ich des Helden im Leben komfortabel etabliert hat, dringen die Forderungen der Unterwelt eines Tages an ihn heran und fordern eine Neuorientierung. Erst wenn die Grenzen des emotional Vorstellbaren erreicht sind, kann die mythische Lehre in dieser Konstellation ihre Wirkung entfalten, da die Gegensatzspannung zwischen der ungetrübten Welt des Protagonisten im Sinne des kompensatorischen Prinzips eines entsprechend getrübten Gegenpols bedarf. Der Thriller operiert also mit einem Mythos, der wesentlich stärker in psychische Grenzbereiche führt und die Grundängste des Zuschauers aktiviert. Der mythische Impetus ist in dieser Art der Heldenreise also von sehr existenzieller Natur, möglicherweise die existenziellste im Vergleich zu anderen Genres.

  1. Vgl. ebd., S. 146
  2. Vgl. ebd., S. 200
  3. Regie: Jon Amiel (1995)
  4. Regie: Tony Scott (1998)
  5. Kinder und Wieck 2001, S.  186 f